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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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lateinischen Hauptworte c:mQu, Horn, gebildete Eigenschaftswort vornriws,
"gehörnt". Der Uebersetzer glaubte dies jedenfalls umsomehr thun zu müssen,
als er das lateinische cornu mit dem hebräischen Kkrczir für stammverwandt
hielt. In Folge dessen schrieb er anstatt: "Und Moses wußte nicht, daß die
Haut seines Antlitzes Strahlen auswarf" (d. h. glüuzte oder verklärt war):
"Moses wußte nicht, daß sein Angesicht gehörnt war durch seine Unterredung mit
dem Herrn."*) So kam es, daß Michel Angelo, der ohne Zweifel bei seiner
Darstellung des Moses die von seiner Kirche rezipirte Bibel zu Rathe zog, wie
dies auch manche Maler vor ihm und die Stempelschneider der Moses-Medaillen
gethan, seinen Moses, der lateinischen Uebersetzung gemäß, als einen eornuwi-,
d. h. als einen Gehörnter, darstellte.

Aus der Feststellung dieser Thatsache ergibt sich aber, daß die Kunst¬
geschichte im Irrthum ist, wenn sie annimmt, Michel Angelo's Moses stelle den
großen Volksführer und Gesetzgeber in dem Augenblicke dar, "da er die Ver¬
ehrung des goldenen Kalbes erblickt und aufspringen will" (Burckhardt, Cicerone),
oder "als sähen die blitzenden Augen eben den Frevel der Verehrung des goldenen
Kalbes" (Lübke, Geschichte der Plastik). Diesen Moment kann der Künstler eben
deshalb nicht in's Auge gefaßt haben, weil er Moses mit Hörnern dargestellt hat.
Denn "gehörnt", wie die Vulgata irrthümlich überträgt, oder "strahlenden An¬
gesichts", wie das Original berichtet, erschien Moses erst, als er die zweiten
Gesetzestafeln vom Sinai brachte und dem Volke zeigte, nicht aber als er im
Begriffe war, die ersten Tafeln zu überbringen, die er, vom Sinai herabsteigend,
beim Anblicke der vor dem goldenen Kalbe tanzenden Kinder Israel zornig
zerschmetterte. Zu dieser Situation würde außerdem die sitzende Stellung nicht
passen, die ihm Michel Angelo gegeben. In dem Augenblicke, wo ihm auf dein
Sinai Gott die erste Nachricht von der Anfertigung und Verehrung des goldenen
Kalbes gibt, steht er vor Gott; ebenso wenig aber kann er bald darauf, wo er
Gott um Schonung für das Volk ansieht, und noch weniger da, wo er, von
Josua begleitet, den Berg hinabsteigt und, dem Lager nahe gekommen, die Tafeln
aus den Händen wirft, sitzend aufgefaßt werden.

Nun könnte man freilich einwenden, daß die sitzende Stellung des Moses
nichts gegen diese Situation beweise, weil dem ursprünglichen Plane zufolge
auf dem Grabdenkmale Julius' II. sitzende Figuren angebracht werden sollten,
von denen eben die eine Moses war. Michel Angelo hätte ihn also in
jeder andern Situation ebenfalls sitzend darstellen müsse". Dagegen läßt sich
aber doch wohl mit Bestimmtheit sagen, daß, gerade weil ein sitzender Moses



*) Luther hat richtig übersetzt: "und wußte nicht, daß die Haut seines Angesichts
glänzete, davon, daß er mit ihm geredet hatte".

lateinischen Hauptworte c:mQu, Horn, gebildete Eigenschaftswort vornriws,
„gehörnt". Der Uebersetzer glaubte dies jedenfalls umsomehr thun zu müssen,
als er das lateinische cornu mit dem hebräischen Kkrczir für stammverwandt
hielt. In Folge dessen schrieb er anstatt: „Und Moses wußte nicht, daß die
Haut seines Antlitzes Strahlen auswarf" (d. h. glüuzte oder verklärt war):
„Moses wußte nicht, daß sein Angesicht gehörnt war durch seine Unterredung mit
dem Herrn."*) So kam es, daß Michel Angelo, der ohne Zweifel bei seiner
Darstellung des Moses die von seiner Kirche rezipirte Bibel zu Rathe zog, wie
dies auch manche Maler vor ihm und die Stempelschneider der Moses-Medaillen
gethan, seinen Moses, der lateinischen Uebersetzung gemäß, als einen eornuwi-,
d. h. als einen Gehörnter, darstellte.

Aus der Feststellung dieser Thatsache ergibt sich aber, daß die Kunst¬
geschichte im Irrthum ist, wenn sie annimmt, Michel Angelo's Moses stelle den
großen Volksführer und Gesetzgeber in dem Augenblicke dar, „da er die Ver¬
ehrung des goldenen Kalbes erblickt und aufspringen will" (Burckhardt, Cicerone),
oder „als sähen die blitzenden Augen eben den Frevel der Verehrung des goldenen
Kalbes" (Lübke, Geschichte der Plastik). Diesen Moment kann der Künstler eben
deshalb nicht in's Auge gefaßt haben, weil er Moses mit Hörnern dargestellt hat.
Denn „gehörnt", wie die Vulgata irrthümlich überträgt, oder „strahlenden An¬
gesichts", wie das Original berichtet, erschien Moses erst, als er die zweiten
Gesetzestafeln vom Sinai brachte und dem Volke zeigte, nicht aber als er im
Begriffe war, die ersten Tafeln zu überbringen, die er, vom Sinai herabsteigend,
beim Anblicke der vor dem goldenen Kalbe tanzenden Kinder Israel zornig
zerschmetterte. Zu dieser Situation würde außerdem die sitzende Stellung nicht
passen, die ihm Michel Angelo gegeben. In dem Augenblicke, wo ihm auf dein
Sinai Gott die erste Nachricht von der Anfertigung und Verehrung des goldenen
Kalbes gibt, steht er vor Gott; ebenso wenig aber kann er bald darauf, wo er
Gott um Schonung für das Volk ansieht, und noch weniger da, wo er, von
Josua begleitet, den Berg hinabsteigt und, dem Lager nahe gekommen, die Tafeln
aus den Händen wirft, sitzend aufgefaßt werden.

Nun könnte man freilich einwenden, daß die sitzende Stellung des Moses
nichts gegen diese Situation beweise, weil dem ursprünglichen Plane zufolge
auf dem Grabdenkmale Julius' II. sitzende Figuren angebracht werden sollten,
von denen eben die eine Moses war. Michel Angelo hätte ihn also in
jeder andern Situation ebenfalls sitzend darstellen müsse». Dagegen läßt sich
aber doch wohl mit Bestimmtheit sagen, daß, gerade weil ein sitzender Moses



*) Luther hat richtig übersetzt: „und wußte nicht, daß die Haut seines Angesichts
glänzete, davon, daß er mit ihm geredet hatte".
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/81>, abgerufen am 01.09.2024.