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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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klagt und geständig, auf ihrem Taufschein eine Bemerkung gefälscht und auch
der Polizei gegenüber benutzt zu haben, die sie als verheirathete Frau bezeichnete,
alles, um einen Fehltritt zu vertuschen. Während nun ihr Vertheidiger nach¬
wies, sie habe laut Zeugniß ein brillantes Examen gemacht und die Qualifi¬
kation einer Gymnasiallehrerin erworben, sei also dereinst berufen, "eine Zierde
der Gesellschaft, nicht aber der Anklagebank" zu sein, erhob selbst der Staats¬
anwalt nur die Anklage auf Gebrauch eines gefälschten Dokuments, nicht auf
Fälschung und legte den Geschwornen nahe, daß man von moralischem Stand¬
punkte aus vielleicht die Sache anders ansehen könne. Das Resultat war
natürlich ein "Nicht schuldig". Im September 1878 wurde ebenso in Moskau
Alexander Wenezkci, Tochter eines Staatsraths, die ihren ungetreuen Liebhaber
mit dem Revolver verwundet hatte, von den Geschwornen freigesprochen, und
maßgebende Organe in der hauptstädtischen Presse fanden dies ganz in der
Ordnung, sogar der "Golos". "So ward," schließt der Verfasser diese Betrach¬
tung, "mit einer gewissen Stetigkeit ein Theil des gebildeten Publikums in
Rußland daran gewöhnt, zunächst das autoritative, dann das rechtliche Element
in der Regierungsmaschinerie herabzusetzen, alsdann aber auch den Begriff von
Recht und Verbrechen selbst in Abrede zu stellen, in ein Nichts aufzulösen."
Kein Wunder, daß nun Mordthat auf Mordthat folgte, bis endlich ein Ruchloser
den Revolver selbst auf das geheiligte Haupt des Kaisers richtete, dem kurz
vorher eine Zuschrift des Nihilistenkomites versichert, seinem Leben drohe
keine Gefahr.

So hat die "Tadelsucht" der Gebildeten den Nihilismus recht eigentlich
als ihr konsequentes Produkt erzeugt, die Stellung der russischen Frauen, das
Treiben auf den Universitäten, die Haltung der Geschwornengerichte hat ihm
den Boden geebnet. Wie soll er bekämpft werden?

Durch Erweiterung der Freiheitsrechte, meinen einige, womöglich durch
Verleihung einer Konstitution. So bat Anfang 1879 die Provinzialvertretung
(Ssemstwo) Charkow auf Antrag des Professors Granitschewski den Zaren
offen um eine Verfassung, und obwohl diese Petition zurückgewiesen, der Antrag¬
steller sogar im "Verwaltungswege" nach Sibirien versetzt wurde, forderte doch
schon im Februar das Ssemstwo der Krym in einer Adresse an den Kaiser
fast einstimmig die Zulassung des Volks zur Betheiligung an den Landes-
Angelegenheiten. Auch literarisch ist dasselbe Verlangen erhoben und begründet
worden.

Karlowitsch ist anderer Meinung und beruft sich dabei auch auf eine
soeben erschienene Schrift des Fürsten Lubomirski: I^s Mtülisras so R-ussis
(Paris, Denen), welche geradezu erklärt: "Wer unter den gegenwärtigen Um¬
ständen für Rußland eine Konstitution vorschlügt, der kennt Rußland wenig


klagt und geständig, auf ihrem Taufschein eine Bemerkung gefälscht und auch
der Polizei gegenüber benutzt zu haben, die sie als verheirathete Frau bezeichnete,
alles, um einen Fehltritt zu vertuschen. Während nun ihr Vertheidiger nach¬
wies, sie habe laut Zeugniß ein brillantes Examen gemacht und die Qualifi¬
kation einer Gymnasiallehrerin erworben, sei also dereinst berufen, „eine Zierde
der Gesellschaft, nicht aber der Anklagebank" zu sein, erhob selbst der Staats¬
anwalt nur die Anklage auf Gebrauch eines gefälschten Dokuments, nicht auf
Fälschung und legte den Geschwornen nahe, daß man von moralischem Stand¬
punkte aus vielleicht die Sache anders ansehen könne. Das Resultat war
natürlich ein „Nicht schuldig". Im September 1878 wurde ebenso in Moskau
Alexander Wenezkci, Tochter eines Staatsraths, die ihren ungetreuen Liebhaber
mit dem Revolver verwundet hatte, von den Geschwornen freigesprochen, und
maßgebende Organe in der hauptstädtischen Presse fanden dies ganz in der
Ordnung, sogar der „Golos". „So ward," schließt der Verfasser diese Betrach¬
tung, „mit einer gewissen Stetigkeit ein Theil des gebildeten Publikums in
Rußland daran gewöhnt, zunächst das autoritative, dann das rechtliche Element
in der Regierungsmaschinerie herabzusetzen, alsdann aber auch den Begriff von
Recht und Verbrechen selbst in Abrede zu stellen, in ein Nichts aufzulösen."
Kein Wunder, daß nun Mordthat auf Mordthat folgte, bis endlich ein Ruchloser
den Revolver selbst auf das geheiligte Haupt des Kaisers richtete, dem kurz
vorher eine Zuschrift des Nihilistenkomites versichert, seinem Leben drohe
keine Gefahr.

So hat die „Tadelsucht" der Gebildeten den Nihilismus recht eigentlich
als ihr konsequentes Produkt erzeugt, die Stellung der russischen Frauen, das
Treiben auf den Universitäten, die Haltung der Geschwornengerichte hat ihm
den Boden geebnet. Wie soll er bekämpft werden?

Durch Erweiterung der Freiheitsrechte, meinen einige, womöglich durch
Verleihung einer Konstitution. So bat Anfang 1879 die Provinzialvertretung
(Ssemstwo) Charkow auf Antrag des Professors Granitschewski den Zaren
offen um eine Verfassung, und obwohl diese Petition zurückgewiesen, der Antrag¬
steller sogar im „Verwaltungswege" nach Sibirien versetzt wurde, forderte doch
schon im Februar das Ssemstwo der Krym in einer Adresse an den Kaiser
fast einstimmig die Zulassung des Volks zur Betheiligung an den Landes-
Angelegenheiten. Auch literarisch ist dasselbe Verlangen erhoben und begründet
worden.

Karlowitsch ist anderer Meinung und beruft sich dabei auch auf eine
soeben erschienene Schrift des Fürsten Lubomirski: I^s Mtülisras so R-ussis
(Paris, Denen), welche geradezu erklärt: „Wer unter den gegenwärtigen Um¬
ständen für Rußland eine Konstitution vorschlügt, der kennt Rußland wenig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/550>, abgerufen am 01.09.2024.