Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Pessimismus und Liberalismus.*)

Es ist eine eigenartige Erscheinung in unserm politischen Leben, daß, so
oft ein bedeutsames Ereigniß eintritt, welches thatsächlich oder auch nur scheinbar
die guten Beziehungen zwischen der Regierung und der liberalen Mehrheit der
Volksvertretung stört, augenblicklich die schlimmsten Befürchtungen auftauchen,
und finstere Kassandra-Rufe erschallen, die uns eine Reaktion der schwärzesten
Art verkünden. Sicherlich hat diese Erscheinung eine gewisse Begründung.
Wer immer nur vom Unglück verfolgt gewesen ist, steht dem Lächeln des
Glückes vorerst mißtrauisch gegenüber. Das leiseste Wölkchen, das an seinem
Horizonte sich zeigt, weckt in ihm die Furcht, daß er sich auch diesmal in seinem
Hoffen betrogen habe, daß von neuem sich das Unglück an seine Sohlen hefte.
Auch das Glück setzt eine gewisse Gewöhnung voraus, wenn wir uns ihm mit
freiem, frohem, ungestörtem Genusse sollen hingeben können. So ist es auch
im Leben der Völker, und hieraus nicht am wenigsten erklärt sich die fieberhafte
Erregbarkeit in unserm Volke gegenüber jedem Ereigniß, das möglicherweise
eine Wendung zum Schlechteren in unsrer staatlichen Weiterentwickelung an¬
deuten könnte. Eine lange und trostlose Erfahrung gibt uns scheinbar ein
Recht, mißtrauisch zu sein und ängstlich über unsere Rechte und Freiheiten zu
wachen. Denn nicht immer galt es für national und loyal, nach dem zu streben,
was wir heute erreicht haben, und noch heute leben Männer unter uns, die es
mit Verbannung und im Zuchthause gebüßt, daß sie mit der ganzen Kraft ihrer
Persönlichkeit nach demjenigen Ideale rangen, an dessen Verwirklichung wir uns
heute in sicherem Besitze erfreuen: dem einigen Deutschland und seiner konsti¬
tutionellen Verfassung. Das wird man nicht ganz übersehen dürfen, heute, wo
das deutsche Volk wiederum eine schwere Krisis zu überstehen hat. "Reaktion!
Reaktion!" lautet wieder einmal das große Schlagwort des Tages, und gerade
die, die auf hoher Zinne der Partei des Wächteramtes zu warten haben,
erheben am lautesten den warnenden Ruf. Unsicherheit herrscht im Volke,
Verwirrung in der liberalen Partei; Hohn und Schadenfreude gibt sich kund



*) Dem obenstehenden Artikel, in welchem eine süddeutsche Stimme sich ausspricht,
gönnen wir Raum, weil er uns, wenn nicht in jeder, so doch in vieler Beziehung den Nagel
auf den Kopf zu treffen scheint.
Grenzboten III. 1S79. 7
Pessimismus und Liberalismus.*)

Es ist eine eigenartige Erscheinung in unserm politischen Leben, daß, so
oft ein bedeutsames Ereigniß eintritt, welches thatsächlich oder auch nur scheinbar
die guten Beziehungen zwischen der Regierung und der liberalen Mehrheit der
Volksvertretung stört, augenblicklich die schlimmsten Befürchtungen auftauchen,
und finstere Kassandra-Rufe erschallen, die uns eine Reaktion der schwärzesten
Art verkünden. Sicherlich hat diese Erscheinung eine gewisse Begründung.
Wer immer nur vom Unglück verfolgt gewesen ist, steht dem Lächeln des
Glückes vorerst mißtrauisch gegenüber. Das leiseste Wölkchen, das an seinem
Horizonte sich zeigt, weckt in ihm die Furcht, daß er sich auch diesmal in seinem
Hoffen betrogen habe, daß von neuem sich das Unglück an seine Sohlen hefte.
Auch das Glück setzt eine gewisse Gewöhnung voraus, wenn wir uns ihm mit
freiem, frohem, ungestörtem Genusse sollen hingeben können. So ist es auch
im Leben der Völker, und hieraus nicht am wenigsten erklärt sich die fieberhafte
Erregbarkeit in unserm Volke gegenüber jedem Ereigniß, das möglicherweise
eine Wendung zum Schlechteren in unsrer staatlichen Weiterentwickelung an¬
deuten könnte. Eine lange und trostlose Erfahrung gibt uns scheinbar ein
Recht, mißtrauisch zu sein und ängstlich über unsere Rechte und Freiheiten zu
wachen. Denn nicht immer galt es für national und loyal, nach dem zu streben,
was wir heute erreicht haben, und noch heute leben Männer unter uns, die es
mit Verbannung und im Zuchthause gebüßt, daß sie mit der ganzen Kraft ihrer
Persönlichkeit nach demjenigen Ideale rangen, an dessen Verwirklichung wir uns
heute in sicherem Besitze erfreuen: dem einigen Deutschland und seiner konsti¬
tutionellen Verfassung. Das wird man nicht ganz übersehen dürfen, heute, wo
das deutsche Volk wiederum eine schwere Krisis zu überstehen hat. „Reaktion!
Reaktion!" lautet wieder einmal das große Schlagwort des Tages, und gerade
die, die auf hoher Zinne der Partei des Wächteramtes zu warten haben,
erheben am lautesten den warnenden Ruf. Unsicherheit herrscht im Volke,
Verwirrung in der liberalen Partei; Hohn und Schadenfreude gibt sich kund



*) Dem obenstehenden Artikel, in welchem eine süddeutsche Stimme sich ausspricht,
gönnen wir Raum, weil er uns, wenn nicht in jeder, so doch in vieler Beziehung den Nagel
auf den Kopf zu treffen scheint.
Grenzboten III. 1S79. 7
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0055" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142552"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Pessimismus und Liberalismus.*)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_163" next="#ID_164"> Es ist eine eigenartige Erscheinung in unserm politischen Leben, daß, so<lb/>
oft ein bedeutsames Ereigniß eintritt, welches thatsächlich oder auch nur scheinbar<lb/>
die guten Beziehungen zwischen der Regierung und der liberalen Mehrheit der<lb/>
Volksvertretung stört, augenblicklich die schlimmsten Befürchtungen auftauchen,<lb/>
und finstere Kassandra-Rufe erschallen, die uns eine Reaktion der schwärzesten<lb/>
Art verkünden. Sicherlich hat diese Erscheinung eine gewisse Begründung.<lb/>
Wer immer nur vom Unglück verfolgt gewesen ist, steht dem Lächeln des<lb/>
Glückes vorerst mißtrauisch gegenüber. Das leiseste Wölkchen, das an seinem<lb/>
Horizonte sich zeigt, weckt in ihm die Furcht, daß er sich auch diesmal in seinem<lb/>
Hoffen betrogen habe, daß von neuem sich das Unglück an seine Sohlen hefte.<lb/>
Auch das Glück setzt eine gewisse Gewöhnung voraus, wenn wir uns ihm mit<lb/>
freiem, frohem, ungestörtem Genusse sollen hingeben können. So ist es auch<lb/>
im Leben der Völker, und hieraus nicht am wenigsten erklärt sich die fieberhafte<lb/>
Erregbarkeit in unserm Volke gegenüber jedem Ereigniß, das möglicherweise<lb/>
eine Wendung zum Schlechteren in unsrer staatlichen Weiterentwickelung an¬<lb/>
deuten könnte. Eine lange und trostlose Erfahrung gibt uns scheinbar ein<lb/>
Recht, mißtrauisch zu sein und ängstlich über unsere Rechte und Freiheiten zu<lb/>
wachen. Denn nicht immer galt es für national und loyal, nach dem zu streben,<lb/>
was wir heute erreicht haben, und noch heute leben Männer unter uns, die es<lb/>
mit Verbannung und im Zuchthause gebüßt, daß sie mit der ganzen Kraft ihrer<lb/>
Persönlichkeit nach demjenigen Ideale rangen, an dessen Verwirklichung wir uns<lb/>
heute in sicherem Besitze erfreuen: dem einigen Deutschland und seiner konsti¬<lb/>
tutionellen Verfassung. Das wird man nicht ganz übersehen dürfen, heute, wo<lb/>
das deutsche Volk wiederum eine schwere Krisis zu überstehen hat. &#x201E;Reaktion!<lb/>
Reaktion!" lautet wieder einmal das große Schlagwort des Tages, und gerade<lb/>
die, die auf hoher Zinne der Partei des Wächteramtes zu warten haben,<lb/>
erheben am lautesten den warnenden Ruf. Unsicherheit herrscht im Volke,<lb/>
Verwirrung in der liberalen Partei; Hohn und Schadenfreude gibt sich kund</p><lb/>
          <note xml:id="FID_2" place="foot"> *) Dem obenstehenden Artikel, in welchem eine süddeutsche Stimme sich ausspricht,<lb/>
gönnen wir Raum, weil er uns, wenn nicht in jeder, so doch in vieler Beziehung den Nagel<lb/>
auf den Kopf zu treffen scheint.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1S79. 7</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0055] Pessimismus und Liberalismus.*) Es ist eine eigenartige Erscheinung in unserm politischen Leben, daß, so oft ein bedeutsames Ereigniß eintritt, welches thatsächlich oder auch nur scheinbar die guten Beziehungen zwischen der Regierung und der liberalen Mehrheit der Volksvertretung stört, augenblicklich die schlimmsten Befürchtungen auftauchen, und finstere Kassandra-Rufe erschallen, die uns eine Reaktion der schwärzesten Art verkünden. Sicherlich hat diese Erscheinung eine gewisse Begründung. Wer immer nur vom Unglück verfolgt gewesen ist, steht dem Lächeln des Glückes vorerst mißtrauisch gegenüber. Das leiseste Wölkchen, das an seinem Horizonte sich zeigt, weckt in ihm die Furcht, daß er sich auch diesmal in seinem Hoffen betrogen habe, daß von neuem sich das Unglück an seine Sohlen hefte. Auch das Glück setzt eine gewisse Gewöhnung voraus, wenn wir uns ihm mit freiem, frohem, ungestörtem Genusse sollen hingeben können. So ist es auch im Leben der Völker, und hieraus nicht am wenigsten erklärt sich die fieberhafte Erregbarkeit in unserm Volke gegenüber jedem Ereigniß, das möglicherweise eine Wendung zum Schlechteren in unsrer staatlichen Weiterentwickelung an¬ deuten könnte. Eine lange und trostlose Erfahrung gibt uns scheinbar ein Recht, mißtrauisch zu sein und ängstlich über unsere Rechte und Freiheiten zu wachen. Denn nicht immer galt es für national und loyal, nach dem zu streben, was wir heute erreicht haben, und noch heute leben Männer unter uns, die es mit Verbannung und im Zuchthause gebüßt, daß sie mit der ganzen Kraft ihrer Persönlichkeit nach demjenigen Ideale rangen, an dessen Verwirklichung wir uns heute in sicherem Besitze erfreuen: dem einigen Deutschland und seiner konsti¬ tutionellen Verfassung. Das wird man nicht ganz übersehen dürfen, heute, wo das deutsche Volk wiederum eine schwere Krisis zu überstehen hat. „Reaktion! Reaktion!" lautet wieder einmal das große Schlagwort des Tages, und gerade die, die auf hoher Zinne der Partei des Wächteramtes zu warten haben, erheben am lautesten den warnenden Ruf. Unsicherheit herrscht im Volke, Verwirrung in der liberalen Partei; Hohn und Schadenfreude gibt sich kund *) Dem obenstehenden Artikel, in welchem eine süddeutsche Stimme sich ausspricht, gönnen wir Raum, weil er uns, wenn nicht in jeder, so doch in vieler Beziehung den Nagel auf den Kopf zu treffen scheint. Grenzboten III. 1S79. 7

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/55
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/55>, abgerufen am 09.11.2024.