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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Autorität aufzulehnen und womöglich ein eignes Moralsystem mit 14 Jahren
aufzubauen, außerordentlichen Vorschub leisten, zumal da viele Eltern in thörichtem
Unverstande derlei Allotria ihrer Söhne als Aeußerungen angeborener Genia¬
lität bewunderten. Wie nun ganz unzweifelhaft in Deutschland durch die
Popularisirung materialistisch-naturwissenschaftlicher Anschauungen dem Sozia¬
lismus in die Hände gearbeitet worden ist, so hat in Rußland die Begünsti¬
gung der realistischen Fächer gerade in der Jugend dem Triebe zur Opposition,
zur Herabsetzung alles Ueberlieferten und Bestehenden reichliche Nahrung zuge¬
führt. Jener Roman Tschernyschewskis fand eben in diesen Kreisen die eifrig¬
sten Leser, der Nihilismus, den er predigte, bis hinunter in die Gymnasien
begeisterte Jünger; nihilistische Verbindungen und nihilistische Mordthaten haben
dann auch hier nicht gefehlt.

Wirkten jene Aenderungen im Erziehungssystem auf die Jugend, so arbei¬
teten unter den Erwachsenen andere Einflüsse an der Verstärkung ihrer feind¬
seligen Stimmung gegenüber den bestehenden Verhältnissen. Vor allem der
Krymkrieg, dessen unglücklicher Ausgang eine Menge Schäden aufdeckte und
denen, welche sich in Anklagen gegen die kaiserliche Verwaltung ergangen hatten,
nur zu sehr Recht zu geben schien. Ja die oppositionelle Strömung war so
gewaltig, daß sie auch hochstehende Regierungsbeamte mit sich fortriß, daß
schließlich selbst die gefürchtete Zensurverwaltung wich, um nicht "unzeitgemäß"
zu erscheinen, und in den Tagesblättern Aufsätze passiren ließ, die mit dem
Romane "Was thun?" die verhängnißvollste Aehnlichkeit hatten, ja daß sie
jahrelang die Verbreitung dieses Machwerks selber duldete.

Wenn ferner die Panslavisten wie AkssÄow und Katkow auch gewiß weit
davon entfernt sind, den Nihilismus zu predigen, so glaubt ihnen Karlowitsch
doch den Vorwurf nicht ersparen zu können, daß sie mindestens indirekt erheb¬
lich zu seiner Förderung beigetragen haben. Denn sie begeisterten das russische
Volk für die Befreiung der Slaven, für einen Gedanken, der ganz außerhalb
des Empfindnngskreises des gemeinen Mannes liegt und für ihn nur dann
Realität gewinnt, wenn man ihn mit "Befreiung der Christen" übersetzt; "sie
deklamirten gegen die Regierung, welche für ihre Utopieen nicht das Wohl Ru߬
lands aufs Spiel setzen wollte", und verkleinerten schließlich die Erfolge des
Krieges, den sie wenn nicht herbeigeführt, so doch beschleunigt hatten, indem sie
ihm ein ganz "falsches, mit Rußlands Tendenzen gar nicht verträgliches Pro¬
gramm unterschoben". So schürten sie die Unzufriedenheit mit der Regierung,
sie brachten jene Empfindung des Ueberdrusses in der dumpfen Verdrossenheit
hervor, die doch nicht im Stande ist, irgend einen positiven Gedanken anzu¬
geben, wie denn nun diesem Rußland zu helfen sei.

Neben dem Streben, der Regierung und überhaupt der Autorität zu trotzen


Autorität aufzulehnen und womöglich ein eignes Moralsystem mit 14 Jahren
aufzubauen, außerordentlichen Vorschub leisten, zumal da viele Eltern in thörichtem
Unverstande derlei Allotria ihrer Söhne als Aeußerungen angeborener Genia¬
lität bewunderten. Wie nun ganz unzweifelhaft in Deutschland durch die
Popularisirung materialistisch-naturwissenschaftlicher Anschauungen dem Sozia¬
lismus in die Hände gearbeitet worden ist, so hat in Rußland die Begünsti¬
gung der realistischen Fächer gerade in der Jugend dem Triebe zur Opposition,
zur Herabsetzung alles Ueberlieferten und Bestehenden reichliche Nahrung zuge¬
führt. Jener Roman Tschernyschewskis fand eben in diesen Kreisen die eifrig¬
sten Leser, der Nihilismus, den er predigte, bis hinunter in die Gymnasien
begeisterte Jünger; nihilistische Verbindungen und nihilistische Mordthaten haben
dann auch hier nicht gefehlt.

Wirkten jene Aenderungen im Erziehungssystem auf die Jugend, so arbei¬
teten unter den Erwachsenen andere Einflüsse an der Verstärkung ihrer feind¬
seligen Stimmung gegenüber den bestehenden Verhältnissen. Vor allem der
Krymkrieg, dessen unglücklicher Ausgang eine Menge Schäden aufdeckte und
denen, welche sich in Anklagen gegen die kaiserliche Verwaltung ergangen hatten,
nur zu sehr Recht zu geben schien. Ja die oppositionelle Strömung war so
gewaltig, daß sie auch hochstehende Regierungsbeamte mit sich fortriß, daß
schließlich selbst die gefürchtete Zensurverwaltung wich, um nicht „unzeitgemäß"
zu erscheinen, und in den Tagesblättern Aufsätze passiren ließ, die mit dem
Romane „Was thun?" die verhängnißvollste Aehnlichkeit hatten, ja daß sie
jahrelang die Verbreitung dieses Machwerks selber duldete.

Wenn ferner die Panslavisten wie AkssÄow und Katkow auch gewiß weit
davon entfernt sind, den Nihilismus zu predigen, so glaubt ihnen Karlowitsch
doch den Vorwurf nicht ersparen zu können, daß sie mindestens indirekt erheb¬
lich zu seiner Förderung beigetragen haben. Denn sie begeisterten das russische
Volk für die Befreiung der Slaven, für einen Gedanken, der ganz außerhalb
des Empfindnngskreises des gemeinen Mannes liegt und für ihn nur dann
Realität gewinnt, wenn man ihn mit „Befreiung der Christen" übersetzt; „sie
deklamirten gegen die Regierung, welche für ihre Utopieen nicht das Wohl Ru߬
lands aufs Spiel setzen wollte", und verkleinerten schließlich die Erfolge des
Krieges, den sie wenn nicht herbeigeführt, so doch beschleunigt hatten, indem sie
ihm ein ganz „falsches, mit Rußlands Tendenzen gar nicht verträgliches Pro¬
gramm unterschoben". So schürten sie die Unzufriedenheit mit der Regierung,
sie brachten jene Empfindung des Ueberdrusses in der dumpfen Verdrossenheit
hervor, die doch nicht im Stande ist, irgend einen positiven Gedanken anzu¬
geben, wie denn nun diesem Rußland zu helfen sei.

Neben dem Streben, der Regierung und überhaupt der Autorität zu trotzen


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[0547] Autorität aufzulehnen und womöglich ein eignes Moralsystem mit 14 Jahren aufzubauen, außerordentlichen Vorschub leisten, zumal da viele Eltern in thörichtem Unverstande derlei Allotria ihrer Söhne als Aeußerungen angeborener Genia¬ lität bewunderten. Wie nun ganz unzweifelhaft in Deutschland durch die Popularisirung materialistisch-naturwissenschaftlicher Anschauungen dem Sozia¬ lismus in die Hände gearbeitet worden ist, so hat in Rußland die Begünsti¬ gung der realistischen Fächer gerade in der Jugend dem Triebe zur Opposition, zur Herabsetzung alles Ueberlieferten und Bestehenden reichliche Nahrung zuge¬ führt. Jener Roman Tschernyschewskis fand eben in diesen Kreisen die eifrig¬ sten Leser, der Nihilismus, den er predigte, bis hinunter in die Gymnasien begeisterte Jünger; nihilistische Verbindungen und nihilistische Mordthaten haben dann auch hier nicht gefehlt. Wirkten jene Aenderungen im Erziehungssystem auf die Jugend, so arbei¬ teten unter den Erwachsenen andere Einflüsse an der Verstärkung ihrer feind¬ seligen Stimmung gegenüber den bestehenden Verhältnissen. Vor allem der Krymkrieg, dessen unglücklicher Ausgang eine Menge Schäden aufdeckte und denen, welche sich in Anklagen gegen die kaiserliche Verwaltung ergangen hatten, nur zu sehr Recht zu geben schien. Ja die oppositionelle Strömung war so gewaltig, daß sie auch hochstehende Regierungsbeamte mit sich fortriß, daß schließlich selbst die gefürchtete Zensurverwaltung wich, um nicht „unzeitgemäß" zu erscheinen, und in den Tagesblättern Aufsätze passiren ließ, die mit dem Romane „Was thun?" die verhängnißvollste Aehnlichkeit hatten, ja daß sie jahrelang die Verbreitung dieses Machwerks selber duldete. Wenn ferner die Panslavisten wie AkssÄow und Katkow auch gewiß weit davon entfernt sind, den Nihilismus zu predigen, so glaubt ihnen Karlowitsch doch den Vorwurf nicht ersparen zu können, daß sie mindestens indirekt erheb¬ lich zu seiner Förderung beigetragen haben. Denn sie begeisterten das russische Volk für die Befreiung der Slaven, für einen Gedanken, der ganz außerhalb des Empfindnngskreises des gemeinen Mannes liegt und für ihn nur dann Realität gewinnt, wenn man ihn mit „Befreiung der Christen" übersetzt; „sie deklamirten gegen die Regierung, welche für ihre Utopieen nicht das Wohl Ru߬ lands aufs Spiel setzen wollte", und verkleinerten schließlich die Erfolge des Krieges, den sie wenn nicht herbeigeführt, so doch beschleunigt hatten, indem sie ihm ein ganz „falsches, mit Rußlands Tendenzen gar nicht verträgliches Pro¬ gramm unterschoben". So schürten sie die Unzufriedenheit mit der Regierung, sie brachten jene Empfindung des Ueberdrusses in der dumpfen Verdrossenheit hervor, die doch nicht im Stande ist, irgend einen positiven Gedanken anzu¬ geben, wie denn nun diesem Rußland zu helfen sei. Neben dem Streben, der Regierung und überhaupt der Autorität zu trotzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/547>, abgerufen am 27.11.2024.