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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Jer Uiljil'ismus und die russische Gesellschaft.

Schon mehrfach ist in diesen Blättern die nihilistische Bewegung in ihrer
Entwickelung und ihren Tendenzen besprochen worden. Inzwischen hat sich die
russische Regierung unter dem Eindrucke des Attentats von Ssolowjew auf Kaiser
Alexander (14. April d. I.) zu einem rücksichtslosen Vorgehen gegen diese
moralische Pest entschlossen, dem der Erfolg ebenso .zu wünschen ist wie dem
deutschen Sozialistengesetz. Wir wissen nicht, ob eine kürzlich erschienene Bro¬
schüre: Die Entwicklung des Nihilismus, von Nicolaj Karlo witsch
(Berlin, B. Behr, 1879. 2. Aufl.) in irgend welchem Zusammenhange mit der
Regierung steht, ob sie etwa dazu bestimmt ist, namentlich vor dem deutschen
Auslande ihr scharfes Auftreten zu rechtfertigen. Das aber ist klar, daß sie
energisch und geschickt den Standpunkt der Regierung versieht. Die ganze An¬
schauung ihres Verfassers von der Lage läßt sich etwa in folgende Sätze zu¬
sammenfassen: Nicht der Despotismus der russischen Regierung hat als seinen
Rückschlag den Nihilismus erzeugt, sondern vielmehr gewisse Charakterzüge des
russischen Volkes und daraus sich ergebende Tendenzen der russischen Gesellschaft.
Deshalb wird nur die rücksichtsloseste Strenge dem Nihilismus ein Ende machen,
nicht aber eine Erweiterung der freiheitlichen Rechte, da ja zu deren Ausübung
die dazu berufenen Kreise der Nation sich durchaus unfähig bewiesen haben.
Der Verfasser gibt nun von diesem Standpunkte aus nicht sowohl eine historisch¬
chronologische Darstellung von der Entwickelung des Nihilismus, als vielmehr
eine Erörterung der Ursachen, welche ihn hervorgerufen und begünstigt haben.

Um eine Kritik der Schrift ist es uns hier nicht zu thun; wir wollen also
auch nicht betonen, daß der Verfasser über die unleugbaren Schäden des russischen
Regierungssystems völlig schweigt und der Gesellschaft allein die ganze Schuld
aufbürdet. Man kann das mißbilligen und seine Darstellung einseitig nennen,
ohne deshalb seine positiven Ausführungen in Zweifel zu ziehen. Jedenfalls
sind kaum jemals von einem Russen der eignen Nation so schonungslos und
ehrlich ihre Sünden vorgehalten worden wie von ihm.

Nicht also der Mangel an Freiheit trägt nach seiner Meinung die Schuld
an der Entstehung und Verbreitung des Nihilismus. Die liberalen Institutionen,
welche Alexander II. seinem Volke gewährte, die großen Gemeindekomplexe
(Wolosti), die Provinzialstände (Ssemstwo), die Stadtvertretungen u. a. haben
in der russischen Gesellschaft durchaus nicht den Boden gefunden, den sie finden
mußten. Dieselbe hat durchaus keinen Sinn und kein Geschick für die Selbst¬
verwaltung gezeigt, die ihr diese Reformen in erheblichem Umfange gewährten.


Jer Uiljil'ismus und die russische Gesellschaft.

Schon mehrfach ist in diesen Blättern die nihilistische Bewegung in ihrer
Entwickelung und ihren Tendenzen besprochen worden. Inzwischen hat sich die
russische Regierung unter dem Eindrucke des Attentats von Ssolowjew auf Kaiser
Alexander (14. April d. I.) zu einem rücksichtslosen Vorgehen gegen diese
moralische Pest entschlossen, dem der Erfolg ebenso .zu wünschen ist wie dem
deutschen Sozialistengesetz. Wir wissen nicht, ob eine kürzlich erschienene Bro¬
schüre: Die Entwicklung des Nihilismus, von Nicolaj Karlo witsch
(Berlin, B. Behr, 1879. 2. Aufl.) in irgend welchem Zusammenhange mit der
Regierung steht, ob sie etwa dazu bestimmt ist, namentlich vor dem deutschen
Auslande ihr scharfes Auftreten zu rechtfertigen. Das aber ist klar, daß sie
energisch und geschickt den Standpunkt der Regierung versieht. Die ganze An¬
schauung ihres Verfassers von der Lage läßt sich etwa in folgende Sätze zu¬
sammenfassen: Nicht der Despotismus der russischen Regierung hat als seinen
Rückschlag den Nihilismus erzeugt, sondern vielmehr gewisse Charakterzüge des
russischen Volkes und daraus sich ergebende Tendenzen der russischen Gesellschaft.
Deshalb wird nur die rücksichtsloseste Strenge dem Nihilismus ein Ende machen,
nicht aber eine Erweiterung der freiheitlichen Rechte, da ja zu deren Ausübung
die dazu berufenen Kreise der Nation sich durchaus unfähig bewiesen haben.
Der Verfasser gibt nun von diesem Standpunkte aus nicht sowohl eine historisch¬
chronologische Darstellung von der Entwickelung des Nihilismus, als vielmehr
eine Erörterung der Ursachen, welche ihn hervorgerufen und begünstigt haben.

Um eine Kritik der Schrift ist es uns hier nicht zu thun; wir wollen also
auch nicht betonen, daß der Verfasser über die unleugbaren Schäden des russischen
Regierungssystems völlig schweigt und der Gesellschaft allein die ganze Schuld
aufbürdet. Man kann das mißbilligen und seine Darstellung einseitig nennen,
ohne deshalb seine positiven Ausführungen in Zweifel zu ziehen. Jedenfalls
sind kaum jemals von einem Russen der eignen Nation so schonungslos und
ehrlich ihre Sünden vorgehalten worden wie von ihm.

Nicht also der Mangel an Freiheit trägt nach seiner Meinung die Schuld
an der Entstehung und Verbreitung des Nihilismus. Die liberalen Institutionen,
welche Alexander II. seinem Volke gewährte, die großen Gemeindekomplexe
(Wolosti), die Provinzialstände (Ssemstwo), die Stadtvertretungen u. a. haben
in der russischen Gesellschaft durchaus nicht den Boden gefunden, den sie finden
mußten. Dieselbe hat durchaus keinen Sinn und kein Geschick für die Selbst¬
verwaltung gezeigt, die ihr diese Reformen in erheblichem Umfange gewährten.


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[0544] Jer Uiljil'ismus und die russische Gesellschaft. Schon mehrfach ist in diesen Blättern die nihilistische Bewegung in ihrer Entwickelung und ihren Tendenzen besprochen worden. Inzwischen hat sich die russische Regierung unter dem Eindrucke des Attentats von Ssolowjew auf Kaiser Alexander (14. April d. I.) zu einem rücksichtslosen Vorgehen gegen diese moralische Pest entschlossen, dem der Erfolg ebenso .zu wünschen ist wie dem deutschen Sozialistengesetz. Wir wissen nicht, ob eine kürzlich erschienene Bro¬ schüre: Die Entwicklung des Nihilismus, von Nicolaj Karlo witsch (Berlin, B. Behr, 1879. 2. Aufl.) in irgend welchem Zusammenhange mit der Regierung steht, ob sie etwa dazu bestimmt ist, namentlich vor dem deutschen Auslande ihr scharfes Auftreten zu rechtfertigen. Das aber ist klar, daß sie energisch und geschickt den Standpunkt der Regierung versieht. Die ganze An¬ schauung ihres Verfassers von der Lage läßt sich etwa in folgende Sätze zu¬ sammenfassen: Nicht der Despotismus der russischen Regierung hat als seinen Rückschlag den Nihilismus erzeugt, sondern vielmehr gewisse Charakterzüge des russischen Volkes und daraus sich ergebende Tendenzen der russischen Gesellschaft. Deshalb wird nur die rücksichtsloseste Strenge dem Nihilismus ein Ende machen, nicht aber eine Erweiterung der freiheitlichen Rechte, da ja zu deren Ausübung die dazu berufenen Kreise der Nation sich durchaus unfähig bewiesen haben. Der Verfasser gibt nun von diesem Standpunkte aus nicht sowohl eine historisch¬ chronologische Darstellung von der Entwickelung des Nihilismus, als vielmehr eine Erörterung der Ursachen, welche ihn hervorgerufen und begünstigt haben. Um eine Kritik der Schrift ist es uns hier nicht zu thun; wir wollen also auch nicht betonen, daß der Verfasser über die unleugbaren Schäden des russischen Regierungssystems völlig schweigt und der Gesellschaft allein die ganze Schuld aufbürdet. Man kann das mißbilligen und seine Darstellung einseitig nennen, ohne deshalb seine positiven Ausführungen in Zweifel zu ziehen. Jedenfalls sind kaum jemals von einem Russen der eignen Nation so schonungslos und ehrlich ihre Sünden vorgehalten worden wie von ihm. Nicht also der Mangel an Freiheit trägt nach seiner Meinung die Schuld an der Entstehung und Verbreitung des Nihilismus. Die liberalen Institutionen, welche Alexander II. seinem Volke gewährte, die großen Gemeindekomplexe (Wolosti), die Provinzialstände (Ssemstwo), die Stadtvertretungen u. a. haben in der russischen Gesellschaft durchaus nicht den Boden gefunden, den sie finden mußten. Dieselbe hat durchaus keinen Sinn und kein Geschick für die Selbst¬ verwaltung gezeigt, die ihr diese Reformen in erheblichem Umfange gewährten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/544>, abgerufen am 27.11.2024.