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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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es ist immer noch zu verwundern, wieviel Eifer und Arbeit die deutsche Ge¬
wissenhaftigkeit bei dieser alljährlichen Aufgabe, deren Lohn in geringem Ver¬
hältniß zu den Mühen steht, aufbringt. Die Liberalen sagen freilich wieder:
Ja, warum steht der Lohn in so geringem Verhältniß zur Mühe? weil die
Parlamente nichts zu sagen haben. Der Liberalismus wird sich entsetzen vor
dem Paradoxon: Wenn die Parlamente Alles zu sagen hätten, hätten sie gar
nichts zu sagen. Darum nämlich, weil den allmächtigen Parlamenten die
Wähler Alles vorschreiben würden und bei den immerwährenden Wahlen auch
Alles vorschreiben könnten. So wären wir wieder bei der reinen Demokratie
angelangt. Aber da ist schon wieder die politische Metaphysik. Wir müssen
nochmals einen Anlauf nehmen, von der allgemeinen Natur unserer deutschen
Wahlbewegungen hinweg auf die gegenwärtige Wahlbewegung zu kommen.

Der eigenthümliche Charakterzug der diesmaligen Wahlbewegung ist all¬
seitige Verdrießlichkeit, die zu dem immerhin entwickelten lebhaften Eifer im
seltsamen Gegensatze steht. Verdrießlich sind vor allen und weitaus am meisten
die Nationalliberalen. Verdrießlich ist trotz aller erheuchelten Siegesgewißheit
der Fortschritt. Verdrießlich ist trotz aller stolzen Hoffnungen das Zentrum.
Verdrießlich sind, obwohl sie es am wenigsten merken lassen und auch am
wenigsten Grund haben, die Konservativen. Warum ist alle Welt so verdrie߬
lich? Weil jede Fraktion dem Kanzler grollt, daß er sie nicht zur mächtigen
und herrschenden macht, indem er ihren Grundsätzen sich anschließt, ihre Rath¬
schläge befolgt und mit gewohntem Erfolg zum Siege führt. Was dem Manne
nicht alles zugemuthet wird! Wem viel gegeben ist, von dem wird viel ge¬
fordert. Aber woher kommt es denn, daß diesmal so viel unvereinbare Hoff¬
nungen gehegt werden, die sich gleichwohl auf eine Enttäuschung vorbereiten,
woraus eben die allgemeine Verdrießlichkeit entsteht? Ehe wir antworten,
müssen wir die Nationalliberalen von diesem Bilde ausnehmen, denn diese
hoffen und fürchten nicht, vielmehr, sie sind bereits enttäuscht, gekränkt, fühlen
sich mißhandelt, trauern und schmollen. Von ihnen darf man nicht sagen, sie
hoffen und fürchten, sondern: sie sind dabei, den Kelch der Resignation zu
leeren, aber allerdings mit der Hoffnung, auf dem Grunde irgend eine Perle
zu finden.

Mit dieser getreuen Schilderung haben wir so ziemlich unsere Antwort
gefunden. Sämmtliche Fraktionen, mit Ausnahme der Nationalliberalen, hoffe",
aber ohne rechte Zuversicht, und sind ärgerlich, daß ihnen eine Hoffnung erregt
worden, zu der sie selbst kein rechtes Herz fassen können. Die Hoffnung aber
ist erregt worden durch den Zwiespalt des Kanzlers mit den Nationalliberalen,
der wiederum diesen das Gefühl bitterer Kränkung bereitet.

Dieser Zwiespalt aber, worin hat er seinen Grund? Etwa in der Laune


es ist immer noch zu verwundern, wieviel Eifer und Arbeit die deutsche Ge¬
wissenhaftigkeit bei dieser alljährlichen Aufgabe, deren Lohn in geringem Ver¬
hältniß zu den Mühen steht, aufbringt. Die Liberalen sagen freilich wieder:
Ja, warum steht der Lohn in so geringem Verhältniß zur Mühe? weil die
Parlamente nichts zu sagen haben. Der Liberalismus wird sich entsetzen vor
dem Paradoxon: Wenn die Parlamente Alles zu sagen hätten, hätten sie gar
nichts zu sagen. Darum nämlich, weil den allmächtigen Parlamenten die
Wähler Alles vorschreiben würden und bei den immerwährenden Wahlen auch
Alles vorschreiben könnten. So wären wir wieder bei der reinen Demokratie
angelangt. Aber da ist schon wieder die politische Metaphysik. Wir müssen
nochmals einen Anlauf nehmen, von der allgemeinen Natur unserer deutschen
Wahlbewegungen hinweg auf die gegenwärtige Wahlbewegung zu kommen.

Der eigenthümliche Charakterzug der diesmaligen Wahlbewegung ist all¬
seitige Verdrießlichkeit, die zu dem immerhin entwickelten lebhaften Eifer im
seltsamen Gegensatze steht. Verdrießlich sind vor allen und weitaus am meisten
die Nationalliberalen. Verdrießlich ist trotz aller erheuchelten Siegesgewißheit
der Fortschritt. Verdrießlich ist trotz aller stolzen Hoffnungen das Zentrum.
Verdrießlich sind, obwohl sie es am wenigsten merken lassen und auch am
wenigsten Grund haben, die Konservativen. Warum ist alle Welt so verdrie߬
lich? Weil jede Fraktion dem Kanzler grollt, daß er sie nicht zur mächtigen
und herrschenden macht, indem er ihren Grundsätzen sich anschließt, ihre Rath¬
schläge befolgt und mit gewohntem Erfolg zum Siege führt. Was dem Manne
nicht alles zugemuthet wird! Wem viel gegeben ist, von dem wird viel ge¬
fordert. Aber woher kommt es denn, daß diesmal so viel unvereinbare Hoff¬
nungen gehegt werden, die sich gleichwohl auf eine Enttäuschung vorbereiten,
woraus eben die allgemeine Verdrießlichkeit entsteht? Ehe wir antworten,
müssen wir die Nationalliberalen von diesem Bilde ausnehmen, denn diese
hoffen und fürchten nicht, vielmehr, sie sind bereits enttäuscht, gekränkt, fühlen
sich mißhandelt, trauern und schmollen. Von ihnen darf man nicht sagen, sie
hoffen und fürchten, sondern: sie sind dabei, den Kelch der Resignation zu
leeren, aber allerdings mit der Hoffnung, auf dem Grunde irgend eine Perle
zu finden.

Mit dieser getreuen Schilderung haben wir so ziemlich unsere Antwort
gefunden. Sämmtliche Fraktionen, mit Ausnahme der Nationalliberalen, hoffe»,
aber ohne rechte Zuversicht, und sind ärgerlich, daß ihnen eine Hoffnung erregt
worden, zu der sie selbst kein rechtes Herz fassen können. Die Hoffnung aber
ist erregt worden durch den Zwiespalt des Kanzlers mit den Nationalliberalen,
der wiederum diesen das Gefühl bitterer Kränkung bereitet.

Dieser Zwiespalt aber, worin hat er seinen Grund? Etwa in der Laune


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/515>, abgerufen am 27.11.2024.