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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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eine Wahlbewegung in Preußen, sei es für das Reich, sei es für den Einzel¬
staat, dazu noch die Wahlen in den übrigen fünfundzwanzig deutschen Staaten --
es ist ein ungesunder, absurder Zustand, nicht viel anders als der eines
Menschen, der jede Woche ein Trinkgelage feiert. An wem liegt die Schuld?
Nun, ein gutes Theil an unserer Vielstaaterei, die wir nicht beseitigen können,
noch dürfen, noch wollen, mit der wir uns aber allerdings so einrichten sollten,
daß sie uns nicht zur täglichen Plage wird. An keinem Punkte tritt wohl die
Schwäche der politischen Einsicht unseres Liberalismus, dieses so wohlmeinenden
Charakters, so auffällig hervor wie in dem Sträuben gegen lange Mandats¬
perioden. Dieser wohlmeinende Liberalismus hat keinen innigeren Herzens¬
wunsch als den nach mächtigen Parlamenten, aber wie mit zehnfacher Blind¬
heit geschlagen stößt er die erste Grundbedingung parlamentarischer Macht, die
lange Dauer der Parlamente, mit Füßen fort. Der große Staatsmann, in
welchem der Liberalismus nachgerade anfängt, den leibhaftigen Gottseibeiuns
zu sehen, hat in gewohnter Ungenirtheit den Ausspruch gethan: Man braucht
nur den Parlamentarismus durch den Parlamentarismus ruiniren zu lassen.
Man kann einem Verblendeten die Ursache seiner Blindheit tausend Mal ins
Gesicht sagen, er greift sich doch nicht nach den Augen. Der Liberalismus
geberdet sich entsetzt, weil eine vierjährige Legislaturperiode statt der dreijährige"
vorgeschlagen worden. Helfen könnte uns nur eine sechs- oder siebenjährige.
Aber der Liberalismus weist mit Entsetzen darauf hin, daß in der diesjährigen
Reichstagssesfion ein oder zwei Abgeordnete für die Zollerhöhungen gestimmt
haben, die bei der Wahl vielleicht als Freihändler galten. Darum, sagt die
liberale Gemeinde, müßte eigentlich zu jeder Session ein Geschäftsprogramm
veröffentlicht werden, und für jedes Programm müßten eigene Wahlen stattfinden.
Der deutsche Liberalismus, dies ist ein Hauptgrund vieler Aergernisse und
Verwirrungen unseres politischen Lebens, hat noch nicht seinen Unterschied von
der Demokratie entdeckt. Er pflegt diesen Unterschied darin zu suchen, daß er
eine Art Monarchie, wenn auch als ausgehöhlte Form stehen zu lassen bereit
ist, während die Demokratie dem Souverän "Volk" auch alle Attribute der
Majestät verleihen will. Die eigentliche Konsequenz der liberalen Auffassung
des Parlamentarismus wäre das imperative und durch Beschluß der Wähler
jederzeit widerrufliche Mandat, oder noch einfacher: die Entscheidung der Ge-
setzgebungs- und Regierungsfragen durch die UrVersammlungen. Die Demo¬
kratie, das sollte unser Liberalismus endlich einmal begreifen, verträgt über¬
haupt den Parlamentarismus nicht, der eine aristokratische Regierungsweise ist.

Doch es war nicht die Absicht dieses Briefes, sich soweit in die politische
Metaphysik, in die allgemeinen Grundsätze zu verlieren. Halten wir mit dieser
Betrachtung inne. Wir haben wieder den Genuß einer Wahlbewegung, und


eine Wahlbewegung in Preußen, sei es für das Reich, sei es für den Einzel¬
staat, dazu noch die Wahlen in den übrigen fünfundzwanzig deutschen Staaten —
es ist ein ungesunder, absurder Zustand, nicht viel anders als der eines
Menschen, der jede Woche ein Trinkgelage feiert. An wem liegt die Schuld?
Nun, ein gutes Theil an unserer Vielstaaterei, die wir nicht beseitigen können,
noch dürfen, noch wollen, mit der wir uns aber allerdings so einrichten sollten,
daß sie uns nicht zur täglichen Plage wird. An keinem Punkte tritt wohl die
Schwäche der politischen Einsicht unseres Liberalismus, dieses so wohlmeinenden
Charakters, so auffällig hervor wie in dem Sträuben gegen lange Mandats¬
perioden. Dieser wohlmeinende Liberalismus hat keinen innigeren Herzens¬
wunsch als den nach mächtigen Parlamenten, aber wie mit zehnfacher Blind¬
heit geschlagen stößt er die erste Grundbedingung parlamentarischer Macht, die
lange Dauer der Parlamente, mit Füßen fort. Der große Staatsmann, in
welchem der Liberalismus nachgerade anfängt, den leibhaftigen Gottseibeiuns
zu sehen, hat in gewohnter Ungenirtheit den Ausspruch gethan: Man braucht
nur den Parlamentarismus durch den Parlamentarismus ruiniren zu lassen.
Man kann einem Verblendeten die Ursache seiner Blindheit tausend Mal ins
Gesicht sagen, er greift sich doch nicht nach den Augen. Der Liberalismus
geberdet sich entsetzt, weil eine vierjährige Legislaturperiode statt der dreijährige»
vorgeschlagen worden. Helfen könnte uns nur eine sechs- oder siebenjährige.
Aber der Liberalismus weist mit Entsetzen darauf hin, daß in der diesjährigen
Reichstagssesfion ein oder zwei Abgeordnete für die Zollerhöhungen gestimmt
haben, die bei der Wahl vielleicht als Freihändler galten. Darum, sagt die
liberale Gemeinde, müßte eigentlich zu jeder Session ein Geschäftsprogramm
veröffentlicht werden, und für jedes Programm müßten eigene Wahlen stattfinden.
Der deutsche Liberalismus, dies ist ein Hauptgrund vieler Aergernisse und
Verwirrungen unseres politischen Lebens, hat noch nicht seinen Unterschied von
der Demokratie entdeckt. Er pflegt diesen Unterschied darin zu suchen, daß er
eine Art Monarchie, wenn auch als ausgehöhlte Form stehen zu lassen bereit
ist, während die Demokratie dem Souverän „Volk" auch alle Attribute der
Majestät verleihen will. Die eigentliche Konsequenz der liberalen Auffassung
des Parlamentarismus wäre das imperative und durch Beschluß der Wähler
jederzeit widerrufliche Mandat, oder noch einfacher: die Entscheidung der Ge-
setzgebungs- und Regierungsfragen durch die UrVersammlungen. Die Demo¬
kratie, das sollte unser Liberalismus endlich einmal begreifen, verträgt über¬
haupt den Parlamentarismus nicht, der eine aristokratische Regierungsweise ist.

Doch es war nicht die Absicht dieses Briefes, sich soweit in die politische
Metaphysik, in die allgemeinen Grundsätze zu verlieren. Halten wir mit dieser
Betrachtung inne. Wir haben wieder den Genuß einer Wahlbewegung, und


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[0514] eine Wahlbewegung in Preußen, sei es für das Reich, sei es für den Einzel¬ staat, dazu noch die Wahlen in den übrigen fünfundzwanzig deutschen Staaten — es ist ein ungesunder, absurder Zustand, nicht viel anders als der eines Menschen, der jede Woche ein Trinkgelage feiert. An wem liegt die Schuld? Nun, ein gutes Theil an unserer Vielstaaterei, die wir nicht beseitigen können, noch dürfen, noch wollen, mit der wir uns aber allerdings so einrichten sollten, daß sie uns nicht zur täglichen Plage wird. An keinem Punkte tritt wohl die Schwäche der politischen Einsicht unseres Liberalismus, dieses so wohlmeinenden Charakters, so auffällig hervor wie in dem Sträuben gegen lange Mandats¬ perioden. Dieser wohlmeinende Liberalismus hat keinen innigeren Herzens¬ wunsch als den nach mächtigen Parlamenten, aber wie mit zehnfacher Blind¬ heit geschlagen stößt er die erste Grundbedingung parlamentarischer Macht, die lange Dauer der Parlamente, mit Füßen fort. Der große Staatsmann, in welchem der Liberalismus nachgerade anfängt, den leibhaftigen Gottseibeiuns zu sehen, hat in gewohnter Ungenirtheit den Ausspruch gethan: Man braucht nur den Parlamentarismus durch den Parlamentarismus ruiniren zu lassen. Man kann einem Verblendeten die Ursache seiner Blindheit tausend Mal ins Gesicht sagen, er greift sich doch nicht nach den Augen. Der Liberalismus geberdet sich entsetzt, weil eine vierjährige Legislaturperiode statt der dreijährige» vorgeschlagen worden. Helfen könnte uns nur eine sechs- oder siebenjährige. Aber der Liberalismus weist mit Entsetzen darauf hin, daß in der diesjährigen Reichstagssesfion ein oder zwei Abgeordnete für die Zollerhöhungen gestimmt haben, die bei der Wahl vielleicht als Freihändler galten. Darum, sagt die liberale Gemeinde, müßte eigentlich zu jeder Session ein Geschäftsprogramm veröffentlicht werden, und für jedes Programm müßten eigene Wahlen stattfinden. Der deutsche Liberalismus, dies ist ein Hauptgrund vieler Aergernisse und Verwirrungen unseres politischen Lebens, hat noch nicht seinen Unterschied von der Demokratie entdeckt. Er pflegt diesen Unterschied darin zu suchen, daß er eine Art Monarchie, wenn auch als ausgehöhlte Form stehen zu lassen bereit ist, während die Demokratie dem Souverän „Volk" auch alle Attribute der Majestät verleihen will. Die eigentliche Konsequenz der liberalen Auffassung des Parlamentarismus wäre das imperative und durch Beschluß der Wähler jederzeit widerrufliche Mandat, oder noch einfacher: die Entscheidung der Ge- setzgebungs- und Regierungsfragen durch die UrVersammlungen. Die Demo¬ kratie, das sollte unser Liberalismus endlich einmal begreifen, verträgt über¬ haupt den Parlamentarismus nicht, der eine aristokratische Regierungsweise ist. Doch es war nicht die Absicht dieses Briefes, sich soweit in die politische Metaphysik, in die allgemeinen Grundsätze zu verlieren. Halten wir mit dieser Betrachtung inne. Wir haben wieder den Genuß einer Wahlbewegung, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/514>, abgerufen am 27.11.2024.