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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Von Schlawe aus gelangt man mit guten Pferden in etwa dritthalb
Stunden nach Varzin. Versetzen wir uns in den Oktober von 187? zurück,
und nehmen wir auf der Post im Städtchen einen Wagen, um dem für alle
Zeiten berühmt gewordenen, Dorfe, seinem Schlosse und seiner Umgebung einen
Besuch abzustatten. Der Kanzler ist seitdem weniger lange dort gewesen.
Wahrscheinlich ist es, daß er seine sommerliche Erholung in Zukunft mehr in
dem bequemer gelegenen Friedrichsruhe suchen, und daß Varzin ihn nur selten
mehr sehen wird. Es könnte sich in Folge dessen in manchen Beziehungen
wesentlich verändern, und so wird es gut sein, wenn das Bild, das es zuletzt
darbot, sür spätere Geschlechter fixirt wird. Nothwendig wird dazu sein, daß
uns auf die Reise ein paar gute Augen, Sinn auch für das Kleine und ein
treues Gedächtniß begleiten; denn die Welt will bis ins einzelne wissen, wie
es hier aussieht und zugeht, und die Nachwelt wird diesen Wunsch sicher in
noch stärkerem Grade hegen.

Der breitschulterige, dunkelrothe Backsteinthurm über dem südlichen Thore
Schlawe's liegt hinter uns, und blasend fährt der Schwager Postillon zwischen
den Scheunen der Ackerbürger ins offne Land, eine weite Fläche, hinaus, über
der sich im Südosten eine Hügelkette, theils kahl, theils bewaldet, in bläulichen
Umrissen erhebt. Die Chaussee, auf die wir gelangt sind, ist gut erhalten, aber
wenig belebt; denn sie verbindet nur kleine Städte mit einander, und auch an
Dörfern scheint der Landstrich, den sie durchschneidet, keinen Ueberfluß zu haben.
Die Straße strebt auf die Hügelkette zu, die später rechts liegen bleibt. Die
etwas ansteigende Fläche zu beiden Seiten ist zuerst waldlos. An den Gräben
der Chaussee wiegen junge Birken mit weißen Stämmen und vergilbten Laube,
dann gelbe Pappeln und rostrothe Kastanien ihre Wipfel im Herbstwinde, der
hier schon einen recht winterlichen Athem hat; nicht zu verwundern, denn
wir befinden uns nur wenige Meilen vom Gestade der Ostsee.

Nachdem wir die Dörfer Quatzow und Wusterwitz passirt, beginnt das
Land hügelig zu werden. Nicht fern vom letztgenannten Orte nimmt uns ein
schöner Laubwald von blutrothen Buchen auf, aus denen gelbe Birkenwipfel
Und noch grüne Eschen hervorsehen. Die ganze Farbenpracht des Herbstes ist
über ihn ausgegossen, fast denkt man an Glühen und Aufflammen. An einer
Stelle ruft ein mit Buchen bestandener Hügelhang eine seltsame Augentäuschung
hervor: man meint in nicht großer Ferne eine rothe Granitwand vor sich zu
haben. Jenseits des Gehölzes fahren wir zweimal über ein Flüßchen mit
Kießgrund und krystallhellen Wasser, wie es sonst nur die Bäche des Gebirges
haben. Es ist die vielgewundene Grabow. Nachdem wir sie das zweite Mal
überschritten haben, befinden wir uns bereits auf dem Gebiete der Herrschaft
Varzin, die hier rechts von der Straße an die Besitzungen des Herrn v. Los


Grenzboten III. 1879. 63

Von Schlawe aus gelangt man mit guten Pferden in etwa dritthalb
Stunden nach Varzin. Versetzen wir uns in den Oktober von 187? zurück,
und nehmen wir auf der Post im Städtchen einen Wagen, um dem für alle
Zeiten berühmt gewordenen, Dorfe, seinem Schlosse und seiner Umgebung einen
Besuch abzustatten. Der Kanzler ist seitdem weniger lange dort gewesen.
Wahrscheinlich ist es, daß er seine sommerliche Erholung in Zukunft mehr in
dem bequemer gelegenen Friedrichsruhe suchen, und daß Varzin ihn nur selten
mehr sehen wird. Es könnte sich in Folge dessen in manchen Beziehungen
wesentlich verändern, und so wird es gut sein, wenn das Bild, das es zuletzt
darbot, sür spätere Geschlechter fixirt wird. Nothwendig wird dazu sein, daß
uns auf die Reise ein paar gute Augen, Sinn auch für das Kleine und ein
treues Gedächtniß begleiten; denn die Welt will bis ins einzelne wissen, wie
es hier aussieht und zugeht, und die Nachwelt wird diesen Wunsch sicher in
noch stärkerem Grade hegen.

Der breitschulterige, dunkelrothe Backsteinthurm über dem südlichen Thore
Schlawe's liegt hinter uns, und blasend fährt der Schwager Postillon zwischen
den Scheunen der Ackerbürger ins offne Land, eine weite Fläche, hinaus, über
der sich im Südosten eine Hügelkette, theils kahl, theils bewaldet, in bläulichen
Umrissen erhebt. Die Chaussee, auf die wir gelangt sind, ist gut erhalten, aber
wenig belebt; denn sie verbindet nur kleine Städte mit einander, und auch an
Dörfern scheint der Landstrich, den sie durchschneidet, keinen Ueberfluß zu haben.
Die Straße strebt auf die Hügelkette zu, die später rechts liegen bleibt. Die
etwas ansteigende Fläche zu beiden Seiten ist zuerst waldlos. An den Gräben
der Chaussee wiegen junge Birken mit weißen Stämmen und vergilbten Laube,
dann gelbe Pappeln und rostrothe Kastanien ihre Wipfel im Herbstwinde, der
hier schon einen recht winterlichen Athem hat; nicht zu verwundern, denn
wir befinden uns nur wenige Meilen vom Gestade der Ostsee.

Nachdem wir die Dörfer Quatzow und Wusterwitz passirt, beginnt das
Land hügelig zu werden. Nicht fern vom letztgenannten Orte nimmt uns ein
schöner Laubwald von blutrothen Buchen auf, aus denen gelbe Birkenwipfel
Und noch grüne Eschen hervorsehen. Die ganze Farbenpracht des Herbstes ist
über ihn ausgegossen, fast denkt man an Glühen und Aufflammen. An einer
Stelle ruft ein mit Buchen bestandener Hügelhang eine seltsame Augentäuschung
hervor: man meint in nicht großer Ferne eine rothe Granitwand vor sich zu
haben. Jenseits des Gehölzes fahren wir zweimal über ein Flüßchen mit
Kießgrund und krystallhellen Wasser, wie es sonst nur die Bäche des Gebirges
haben. Es ist die vielgewundene Grabow. Nachdem wir sie das zweite Mal
überschritten haben, befinden wir uns bereits auf dem Gebiete der Herrschaft
Varzin, die hier rechts von der Straße an die Besitzungen des Herrn v. Los


Grenzboten III. 1879. 63
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[0495] Von Schlawe aus gelangt man mit guten Pferden in etwa dritthalb Stunden nach Varzin. Versetzen wir uns in den Oktober von 187? zurück, und nehmen wir auf der Post im Städtchen einen Wagen, um dem für alle Zeiten berühmt gewordenen, Dorfe, seinem Schlosse und seiner Umgebung einen Besuch abzustatten. Der Kanzler ist seitdem weniger lange dort gewesen. Wahrscheinlich ist es, daß er seine sommerliche Erholung in Zukunft mehr in dem bequemer gelegenen Friedrichsruhe suchen, und daß Varzin ihn nur selten mehr sehen wird. Es könnte sich in Folge dessen in manchen Beziehungen wesentlich verändern, und so wird es gut sein, wenn das Bild, das es zuletzt darbot, sür spätere Geschlechter fixirt wird. Nothwendig wird dazu sein, daß uns auf die Reise ein paar gute Augen, Sinn auch für das Kleine und ein treues Gedächtniß begleiten; denn die Welt will bis ins einzelne wissen, wie es hier aussieht und zugeht, und die Nachwelt wird diesen Wunsch sicher in noch stärkerem Grade hegen. Der breitschulterige, dunkelrothe Backsteinthurm über dem südlichen Thore Schlawe's liegt hinter uns, und blasend fährt der Schwager Postillon zwischen den Scheunen der Ackerbürger ins offne Land, eine weite Fläche, hinaus, über der sich im Südosten eine Hügelkette, theils kahl, theils bewaldet, in bläulichen Umrissen erhebt. Die Chaussee, auf die wir gelangt sind, ist gut erhalten, aber wenig belebt; denn sie verbindet nur kleine Städte mit einander, und auch an Dörfern scheint der Landstrich, den sie durchschneidet, keinen Ueberfluß zu haben. Die Straße strebt auf die Hügelkette zu, die später rechts liegen bleibt. Die etwas ansteigende Fläche zu beiden Seiten ist zuerst waldlos. An den Gräben der Chaussee wiegen junge Birken mit weißen Stämmen und vergilbten Laube, dann gelbe Pappeln und rostrothe Kastanien ihre Wipfel im Herbstwinde, der hier schon einen recht winterlichen Athem hat; nicht zu verwundern, denn wir befinden uns nur wenige Meilen vom Gestade der Ostsee. Nachdem wir die Dörfer Quatzow und Wusterwitz passirt, beginnt das Land hügelig zu werden. Nicht fern vom letztgenannten Orte nimmt uns ein schöner Laubwald von blutrothen Buchen auf, aus denen gelbe Birkenwipfel Und noch grüne Eschen hervorsehen. Die ganze Farbenpracht des Herbstes ist über ihn ausgegossen, fast denkt man an Glühen und Aufflammen. An einer Stelle ruft ein mit Buchen bestandener Hügelhang eine seltsame Augentäuschung hervor: man meint in nicht großer Ferne eine rothe Granitwand vor sich zu haben. Jenseits des Gehölzes fahren wir zweimal über ein Flüßchen mit Kießgrund und krystallhellen Wasser, wie es sonst nur die Bäche des Gebirges haben. Es ist die vielgewundene Grabow. Nachdem wir sie das zweite Mal überschritten haben, befinden wir uns bereits auf dem Gebiete der Herrschaft Varzin, die hier rechts von der Straße an die Besitzungen des Herrn v. Los Grenzboten III. 1879. 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/495>, abgerufen am 27.11.2024.