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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Spezialgeschichten. Allein neben der Reichsgeschichte tritt etwas andres in den
Vordergrund und belebt dieselbe: die Geschichte des deutschen Volks, und
hier wieder ganz besonders die Geschichte der deutschen Städte. Mag auch das
14. und 15. Jahrhundert in mancher Beziehung eine Periode des Niedergangs
geunnut werden können, in anderer haben auch diese Zeiten Neues und Gro߬
artiges geschaffen. Das Volk brauchte neue Kräfte, um trotz des Zusammen¬
brechens früherer Stützen sich aufrecht zu halten; und diese Kräfte fand es in
sich selbst. Das aber ist das wunderbar Anziehende in der Geschichte des
deutschen Städtewesens: es wiederholt sich hier, vielleicht in einem gewissen
Gegensatze gegen das die vorhergehenden Jahrhunderte durchdringende Lehn-
weseu, das altgermanische Prinzip der Selbstverwaltung auf der Basis der
persönlichen Freiheit, wenn auch in neuen Formen, und es zeigt sich, daß dieses
Prinzip zu einer großartigen Kraftentwickelung führen kann. Freilich waren
materielle, nicht ideelle Gesichtspunkte die leitenden. Der gauzeu Entwickelung
des deutschen Städtewesens liegt ein entschieden egoistischer Zug zu Grunde;
die Politik der deutschen Städte war lediglich Interessenpolitik und bewegte
sich noch dazu zunächst in beschränkten Kreisen, die sich nur dann erweiterten,
wenn es eben das Interesse der Einzelstadt erheischte. Gewiß kann man sich
keine größern Gegensätze denken, als etwa die italienische Politik der Staufen
und die nüchtern Handelspolitik einer nord- oder süddeutschen Reichsstadt. Allein
dieser gesund realistische Zug hatte seine volle historische Berechtigung, und seine
Wirkungen bilden die erfreulichste Erscheinung in der Geschichte des angehenden
Mittelalters.

Der Entwickelung des Städtewesens nachzugehen, ist überall von hohem
Interesse, und es bedarf noch zahlreicher Einzelforschungen, ehe sich der Einfluß
desselben auf das gesammte geschichtliche, Kultur- und Rechtsleben unsrer Nation
vollständig wird übersehen lassen. Ohne Frage die größte Beachtung aber
verdient jene Städteverbindnng des deutschen Nordens, die unter dem Namen
der Hanse eine weltgeschichtliche Bedeutung gewonnen hat. Es ist hocherfreulich,
daß gerade auf diesem Gebiete die gelehrte Forschung gegenwärtig mit besonderer
Energie thätig ist.

Den Lesern der "Grenzboten" ist bereits aus einer früheren Mittheilung
(31. Jahrgang, 2. Semester, S. 371) bekannt, daß seit dem Jahre 1871 ein
Hansischer Geschichtsverein besteht, der vor den meisten der zahlreichen historischen
Vereine Deutschland's den Vortheil voraus hat, daß die hervorragendsten
Geschichtsforscher Norddeutschland's sich lebhaft für ihn interessiren und für
seine Zwecke thätig sind. So hat ihm vor allem Georg Waitz eine Anzahl
tüchtiger junger Kräfte zugeführt. Man faßte zunächst, von vollkommen
richtigen Grundsätzen ausgehend, umfassende Quellenpublikatiouen ins Auge;


Grenzboten III. 1879. 62

Spezialgeschichten. Allein neben der Reichsgeschichte tritt etwas andres in den
Vordergrund und belebt dieselbe: die Geschichte des deutschen Volks, und
hier wieder ganz besonders die Geschichte der deutschen Städte. Mag auch das
14. und 15. Jahrhundert in mancher Beziehung eine Periode des Niedergangs
geunnut werden können, in anderer haben auch diese Zeiten Neues und Gro߬
artiges geschaffen. Das Volk brauchte neue Kräfte, um trotz des Zusammen¬
brechens früherer Stützen sich aufrecht zu halten; und diese Kräfte fand es in
sich selbst. Das aber ist das wunderbar Anziehende in der Geschichte des
deutschen Städtewesens: es wiederholt sich hier, vielleicht in einem gewissen
Gegensatze gegen das die vorhergehenden Jahrhunderte durchdringende Lehn-
weseu, das altgermanische Prinzip der Selbstverwaltung auf der Basis der
persönlichen Freiheit, wenn auch in neuen Formen, und es zeigt sich, daß dieses
Prinzip zu einer großartigen Kraftentwickelung führen kann. Freilich waren
materielle, nicht ideelle Gesichtspunkte die leitenden. Der gauzeu Entwickelung
des deutschen Städtewesens liegt ein entschieden egoistischer Zug zu Grunde;
die Politik der deutschen Städte war lediglich Interessenpolitik und bewegte
sich noch dazu zunächst in beschränkten Kreisen, die sich nur dann erweiterten,
wenn es eben das Interesse der Einzelstadt erheischte. Gewiß kann man sich
keine größern Gegensätze denken, als etwa die italienische Politik der Staufen
und die nüchtern Handelspolitik einer nord- oder süddeutschen Reichsstadt. Allein
dieser gesund realistische Zug hatte seine volle historische Berechtigung, und seine
Wirkungen bilden die erfreulichste Erscheinung in der Geschichte des angehenden
Mittelalters.

Der Entwickelung des Städtewesens nachzugehen, ist überall von hohem
Interesse, und es bedarf noch zahlreicher Einzelforschungen, ehe sich der Einfluß
desselben auf das gesammte geschichtliche, Kultur- und Rechtsleben unsrer Nation
vollständig wird übersehen lassen. Ohne Frage die größte Beachtung aber
verdient jene Städteverbindnng des deutschen Nordens, die unter dem Namen
der Hanse eine weltgeschichtliche Bedeutung gewonnen hat. Es ist hocherfreulich,
daß gerade auf diesem Gebiete die gelehrte Forschung gegenwärtig mit besonderer
Energie thätig ist.

Den Lesern der „Grenzboten" ist bereits aus einer früheren Mittheilung
(31. Jahrgang, 2. Semester, S. 371) bekannt, daß seit dem Jahre 1871 ein
Hansischer Geschichtsverein besteht, der vor den meisten der zahlreichen historischen
Vereine Deutschland's den Vortheil voraus hat, daß die hervorragendsten
Geschichtsforscher Norddeutschland's sich lebhaft für ihn interessiren und für
seine Zwecke thätig sind. So hat ihm vor allem Georg Waitz eine Anzahl
tüchtiger junger Kräfte zugeführt. Man faßte zunächst, von vollkommen
richtigen Grundsätzen ausgehend, umfassende Quellenpublikatiouen ins Auge;


Grenzboten III. 1879. 62
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[0487] Spezialgeschichten. Allein neben der Reichsgeschichte tritt etwas andres in den Vordergrund und belebt dieselbe: die Geschichte des deutschen Volks, und hier wieder ganz besonders die Geschichte der deutschen Städte. Mag auch das 14. und 15. Jahrhundert in mancher Beziehung eine Periode des Niedergangs geunnut werden können, in anderer haben auch diese Zeiten Neues und Gro߬ artiges geschaffen. Das Volk brauchte neue Kräfte, um trotz des Zusammen¬ brechens früherer Stützen sich aufrecht zu halten; und diese Kräfte fand es in sich selbst. Das aber ist das wunderbar Anziehende in der Geschichte des deutschen Städtewesens: es wiederholt sich hier, vielleicht in einem gewissen Gegensatze gegen das die vorhergehenden Jahrhunderte durchdringende Lehn- weseu, das altgermanische Prinzip der Selbstverwaltung auf der Basis der persönlichen Freiheit, wenn auch in neuen Formen, und es zeigt sich, daß dieses Prinzip zu einer großartigen Kraftentwickelung führen kann. Freilich waren materielle, nicht ideelle Gesichtspunkte die leitenden. Der gauzeu Entwickelung des deutschen Städtewesens liegt ein entschieden egoistischer Zug zu Grunde; die Politik der deutschen Städte war lediglich Interessenpolitik und bewegte sich noch dazu zunächst in beschränkten Kreisen, die sich nur dann erweiterten, wenn es eben das Interesse der Einzelstadt erheischte. Gewiß kann man sich keine größern Gegensätze denken, als etwa die italienische Politik der Staufen und die nüchtern Handelspolitik einer nord- oder süddeutschen Reichsstadt. Allein dieser gesund realistische Zug hatte seine volle historische Berechtigung, und seine Wirkungen bilden die erfreulichste Erscheinung in der Geschichte des angehenden Mittelalters. Der Entwickelung des Städtewesens nachzugehen, ist überall von hohem Interesse, und es bedarf noch zahlreicher Einzelforschungen, ehe sich der Einfluß desselben auf das gesammte geschichtliche, Kultur- und Rechtsleben unsrer Nation vollständig wird übersehen lassen. Ohne Frage die größte Beachtung aber verdient jene Städteverbindnng des deutschen Nordens, die unter dem Namen der Hanse eine weltgeschichtliche Bedeutung gewonnen hat. Es ist hocherfreulich, daß gerade auf diesem Gebiete die gelehrte Forschung gegenwärtig mit besonderer Energie thätig ist. Den Lesern der „Grenzboten" ist bereits aus einer früheren Mittheilung (31. Jahrgang, 2. Semester, S. 371) bekannt, daß seit dem Jahre 1871 ein Hansischer Geschichtsverein besteht, der vor den meisten der zahlreichen historischen Vereine Deutschland's den Vortheil voraus hat, daß die hervorragendsten Geschichtsforscher Norddeutschland's sich lebhaft für ihn interessiren und für seine Zwecke thätig sind. So hat ihm vor allem Georg Waitz eine Anzahl tüchtiger junger Kräfte zugeführt. Man faßte zunächst, von vollkommen richtigen Grundsätzen ausgehend, umfassende Quellenpublikatiouen ins Auge; Grenzboten III. 1879. 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/487>, abgerufen am 27.07.2024.