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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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nach Spanien, nach Italien, nach allen Ländern, wo nur eine Konfession ist,
in wie faulem Zustande sich dort die Religion befindet. Der Kampf ist noth¬
wendig zu gesundem Leben." Fran Boisseree war eine durchaus wahre Natur.
Fromme Redensarten und jeder Anflug von Pietisterei waren ihr bis in den
Tod verhaßt; sie konnte sehr schroff sein, wo ihr solche Unarten christlicher
Frömmigkeit begegneten. Näher als Mendelssohn und Boisseree stand Amalien
der Professor Clemens Perthes. Die große Aufgabe, die dieser sich gestellt
hatte, war die christliche Durchdringung des Volkslebens. Daß die soziale
Frage uur auf dem Boden des positiven Christenthums gelöst werden könne,
war ihm außer Zweifel. Mit Entschiedenheit sprach er sich gegen die ans,
welche "glauben, christliche Früchte für das soziale Leben, so weit sie ihnen
munden, vom Christenthum pflücken und doch zugleich die christliche Glanbens-
wnrzel verachten zu können". Aus dieser Tendenz erwuchs sein Streben, in
den Städten in christlichem Sinne geleitete Herbergen für wandernde Hand¬
werksgesellen zu errichten. Seine, des Protestanten, Stellung zur katholischen
Kirche ist am bestimmtesten gezeichnet, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß er,
der Freund des von ihm so hoch verehrten protestantischen Theologen Nitzsch,
des Mannes, dem Bunsen einmal das Prädikat des "apostolischen" gab,
doch so innige Beziehungen zu dem katholischen Theologen Hilgers geknüpft
hatte, daß er äußerte: "Ich möchte wenige Männer so gerne an meinem
Sterbebett sehen, wie Professor Hilgers." Ein eigenthümlicher Zug seiner
Natur war das fast durch sein ganzes Leben sich hindurchziehende Nachsinnen
über das Geheimniß des Todes; ein Interesse, das ihn unwiderstehlich zu deu
Sterbebetten ihm nahe stehender Personen trieb. Wir haben darin, wie es
scheint, ein Erbe zu erkennen, das er von seinem Großvater Matthias Claudius
überkommen hatte, der auch, wie uns Clemens Perthes in der Biographie seines
Vaters berichtet, von der Macht des Todes überwältigt, je länger je mehr
seine Gedanken auf denselben richtete.

Deu tiefsten Einfluß auf Schwester Augustine übte aber der Professor
der katholischen Theologie in Bonn, Bernhard Joseph Hilgers, ans. Auch in
ihm sind die Spuren von Matthias Claudius wahrnehmbar. In Siegburg,
wo er Anstaltsgeistlicher gewesen war, hatte er nahe Beziehungen zu Jacobi,
der das Irrenhaus leitete, unterhalten, und dieser sowohl wie seine ausgezeich¬
nete Frau Anna, Claudius' Tochter, hatten einen lebendigen Eindruck des
positiven Protestantismus in Hilgers hervorgebracht; "eine Schuppe nach der
anderen," sagte er, "sei ihm dort von den Augen gefallen". Später war Hilgers
nach Bonn gekommen und hatte hier zugleich eine akademische und pfarramt¬
liche Thätigkeit ausgeübt. Schmerzliche Erfahrungen waren ihm nicht erspart
geblieben; die Unterdrückn"", des Hermesianismus hatte ihn, einen Schüler von


nach Spanien, nach Italien, nach allen Ländern, wo nur eine Konfession ist,
in wie faulem Zustande sich dort die Religion befindet. Der Kampf ist noth¬
wendig zu gesundem Leben." Fran Boisseree war eine durchaus wahre Natur.
Fromme Redensarten und jeder Anflug von Pietisterei waren ihr bis in den
Tod verhaßt; sie konnte sehr schroff sein, wo ihr solche Unarten christlicher
Frömmigkeit begegneten. Näher als Mendelssohn und Boisseree stand Amalien
der Professor Clemens Perthes. Die große Aufgabe, die dieser sich gestellt
hatte, war die christliche Durchdringung des Volkslebens. Daß die soziale
Frage uur auf dem Boden des positiven Christenthums gelöst werden könne,
war ihm außer Zweifel. Mit Entschiedenheit sprach er sich gegen die ans,
welche „glauben, christliche Früchte für das soziale Leben, so weit sie ihnen
munden, vom Christenthum pflücken und doch zugleich die christliche Glanbens-
wnrzel verachten zu können". Aus dieser Tendenz erwuchs sein Streben, in
den Städten in christlichem Sinne geleitete Herbergen für wandernde Hand¬
werksgesellen zu errichten. Seine, des Protestanten, Stellung zur katholischen
Kirche ist am bestimmtesten gezeichnet, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß er,
der Freund des von ihm so hoch verehrten protestantischen Theologen Nitzsch,
des Mannes, dem Bunsen einmal das Prädikat des „apostolischen" gab,
doch so innige Beziehungen zu dem katholischen Theologen Hilgers geknüpft
hatte, daß er äußerte: „Ich möchte wenige Männer so gerne an meinem
Sterbebett sehen, wie Professor Hilgers." Ein eigenthümlicher Zug seiner
Natur war das fast durch sein ganzes Leben sich hindurchziehende Nachsinnen
über das Geheimniß des Todes; ein Interesse, das ihn unwiderstehlich zu deu
Sterbebetten ihm nahe stehender Personen trieb. Wir haben darin, wie es
scheint, ein Erbe zu erkennen, das er von seinem Großvater Matthias Claudius
überkommen hatte, der auch, wie uns Clemens Perthes in der Biographie seines
Vaters berichtet, von der Macht des Todes überwältigt, je länger je mehr
seine Gedanken auf denselben richtete.

Deu tiefsten Einfluß auf Schwester Augustine übte aber der Professor
der katholischen Theologie in Bonn, Bernhard Joseph Hilgers, ans. Auch in
ihm sind die Spuren von Matthias Claudius wahrnehmbar. In Siegburg,
wo er Anstaltsgeistlicher gewesen war, hatte er nahe Beziehungen zu Jacobi,
der das Irrenhaus leitete, unterhalten, und dieser sowohl wie seine ausgezeich¬
nete Frau Anna, Claudius' Tochter, hatten einen lebendigen Eindruck des
positiven Protestantismus in Hilgers hervorgebracht; „eine Schuppe nach der
anderen," sagte er, „sei ihm dort von den Augen gefallen". Später war Hilgers
nach Bonn gekommen und hatte hier zugleich eine akademische und pfarramt¬
liche Thätigkeit ausgeübt. Schmerzliche Erfahrungen waren ihm nicht erspart
geblieben; die Unterdrückn»«, des Hermesianismus hatte ihn, einen Schüler von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/444>, abgerufen am 01.09.2024.