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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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an der offenen Thüre und sah in das Gewimmel und dachte: Sind sie denn
verrückt?" Die Jugendzeit ging zu Ende; schwer wurde es Amalie, sich in die
Pflichten einer erwachsenen Tochter zu finden, da sie gern die Kinderzeit über
das Maß ausgedehnt hätte.

Manche Bewerbungen traten jetzt an sie heran, die ihren Eltern wünschens¬
wert!) erschienen. Sie wies sie aber alle zurück, so schwer sie unter der Ver¬
stimmung der Eltern zu leiden hatte. Einer Schwester ihres Vaters, die
ihr Hochmuth vorwarf, entgegnete sie heftig: "Ich bin nicht hochmüthig; ich
weiß Einen, dem würde ich die Schuhe putzen, wenn er es von mir verlangte."
Jener Eine, sagen die Erinnerungen, hat vielleicht nie eine Ahnung von dieser
Neigung gehabt, welche sie tief verschlossen hielt und in der Folge ganz über¬
wand. Endlich verlobte sie sich mit einem jungen Arzt, ungern gaben die
Eltern ihre Zustimmung. Amaliens idealisirende Phantasie hatte in den
Mann ihrer Wahl Eigenschaften hineingelesen, die er nicht besaß, und über
seine niedrige Denkungsart sich getäuscht. Als sie derselben inne wurde, löste
sie sofort die Verlobung wieder auf. Dies war die Katastrophe ihres Lebens.
Verzweifelung ergriff sie, Stunden lang lief sie in ihrem Zimmer umher, den
Kopf gegen die Wand stoßend. Ein heftiges Nervenfieber ergriff sie; nach ihrer
Genesung war sie wie verwandelt. Eine tiefe Melancholie bemächtigte sich
ihrer. Ihr Zerstreuung zu gewähren, sandten sie die Eltern nach Würzburg,
wo ihr Bruder Ernst, mit der Tochter des Philosophen Franz v. Baader ver¬
mählt, seit 1835 als Universitäts-Professor lebte. Das Haus desselben lag in
der Nähe der Klinik, und der Anblick der vielen Leidenden, die sie dort hinein
tragen sah, war es, der den Gedanken in ihrer Seele weckte, in der Pflege
der Leidenden ihren Beruf zu suchen und so ihrem Leben einen neuen Inhalt
zu geben.

Nach Bonn zurückgekehrt, trat sie ohne Wissen ihrer Eltern durch Ver¬
mittelung eines Freundes in Beziehung zu den Schwestern ans der Kongre¬
gation vom heiligen Karl Borromäus ans Nancy, in deren Gemeinschaft ihre
Schwester Anna seit dem achtzehnten Jahre aufgenommen war, und begab
sich 1840 nach Nancy, von wo ans sie ihren Eltern erst Mittheilung machte.
Theils die Verschlossenheit, die im elterlichen Hause herrschte, theils die Gewi߬
heit, hier heftigen Widerstand zu finden, vor allem aber die Ueberzeugung,
daß sie einem göttlichen Rufe folge, hatte sie zu diesem Schritte getrieben.
Der Gedanke: "Sag' es niemand, es soll nur zwischen mir und meinem Gott
sein", begleitete sie auf allen Wegen. Lange hatte sie mit sich gekämpft; als
sie sich zur Klarheit durchgerungen hatte, stand ihr Entschluß fest. Das Eltern¬
haus wurde durch die Nachricht tief erschüttert.

Sehr richtig sagen die Erinnerungen: "Es war nicht das eigentliche Kloster-


Grenzbvten III. 1379. 66

an der offenen Thüre und sah in das Gewimmel und dachte: Sind sie denn
verrückt?" Die Jugendzeit ging zu Ende; schwer wurde es Amalie, sich in die
Pflichten einer erwachsenen Tochter zu finden, da sie gern die Kinderzeit über
das Maß ausgedehnt hätte.

Manche Bewerbungen traten jetzt an sie heran, die ihren Eltern wünschens¬
wert!) erschienen. Sie wies sie aber alle zurück, so schwer sie unter der Ver¬
stimmung der Eltern zu leiden hatte. Einer Schwester ihres Vaters, die
ihr Hochmuth vorwarf, entgegnete sie heftig: „Ich bin nicht hochmüthig; ich
weiß Einen, dem würde ich die Schuhe putzen, wenn er es von mir verlangte."
Jener Eine, sagen die Erinnerungen, hat vielleicht nie eine Ahnung von dieser
Neigung gehabt, welche sie tief verschlossen hielt und in der Folge ganz über¬
wand. Endlich verlobte sie sich mit einem jungen Arzt, ungern gaben die
Eltern ihre Zustimmung. Amaliens idealisirende Phantasie hatte in den
Mann ihrer Wahl Eigenschaften hineingelesen, die er nicht besaß, und über
seine niedrige Denkungsart sich getäuscht. Als sie derselben inne wurde, löste
sie sofort die Verlobung wieder auf. Dies war die Katastrophe ihres Lebens.
Verzweifelung ergriff sie, Stunden lang lief sie in ihrem Zimmer umher, den
Kopf gegen die Wand stoßend. Ein heftiges Nervenfieber ergriff sie; nach ihrer
Genesung war sie wie verwandelt. Eine tiefe Melancholie bemächtigte sich
ihrer. Ihr Zerstreuung zu gewähren, sandten sie die Eltern nach Würzburg,
wo ihr Bruder Ernst, mit der Tochter des Philosophen Franz v. Baader ver¬
mählt, seit 1835 als Universitäts-Professor lebte. Das Haus desselben lag in
der Nähe der Klinik, und der Anblick der vielen Leidenden, die sie dort hinein
tragen sah, war es, der den Gedanken in ihrer Seele weckte, in der Pflege
der Leidenden ihren Beruf zu suchen und so ihrem Leben einen neuen Inhalt
zu geben.

Nach Bonn zurückgekehrt, trat sie ohne Wissen ihrer Eltern durch Ver¬
mittelung eines Freundes in Beziehung zu den Schwestern ans der Kongre¬
gation vom heiligen Karl Borromäus ans Nancy, in deren Gemeinschaft ihre
Schwester Anna seit dem achtzehnten Jahre aufgenommen war, und begab
sich 1840 nach Nancy, von wo ans sie ihren Eltern erst Mittheilung machte.
Theils die Verschlossenheit, die im elterlichen Hause herrschte, theils die Gewi߬
heit, hier heftigen Widerstand zu finden, vor allem aber die Ueberzeugung,
daß sie einem göttlichen Rufe folge, hatte sie zu diesem Schritte getrieben.
Der Gedanke: „Sag' es niemand, es soll nur zwischen mir und meinem Gott
sein", begleitete sie auf allen Wegen. Lange hatte sie mit sich gekämpft; als
sie sich zur Klarheit durchgerungen hatte, stand ihr Entschluß fest. Das Eltern¬
haus wurde durch die Nachricht tief erschüttert.

Sehr richtig sagen die Erinnerungen: „Es war nicht das eigentliche Kloster-


Grenzbvten III. 1379. 66
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[0439] an der offenen Thüre und sah in das Gewimmel und dachte: Sind sie denn verrückt?" Die Jugendzeit ging zu Ende; schwer wurde es Amalie, sich in die Pflichten einer erwachsenen Tochter zu finden, da sie gern die Kinderzeit über das Maß ausgedehnt hätte. Manche Bewerbungen traten jetzt an sie heran, die ihren Eltern wünschens¬ wert!) erschienen. Sie wies sie aber alle zurück, so schwer sie unter der Ver¬ stimmung der Eltern zu leiden hatte. Einer Schwester ihres Vaters, die ihr Hochmuth vorwarf, entgegnete sie heftig: „Ich bin nicht hochmüthig; ich weiß Einen, dem würde ich die Schuhe putzen, wenn er es von mir verlangte." Jener Eine, sagen die Erinnerungen, hat vielleicht nie eine Ahnung von dieser Neigung gehabt, welche sie tief verschlossen hielt und in der Folge ganz über¬ wand. Endlich verlobte sie sich mit einem jungen Arzt, ungern gaben die Eltern ihre Zustimmung. Amaliens idealisirende Phantasie hatte in den Mann ihrer Wahl Eigenschaften hineingelesen, die er nicht besaß, und über seine niedrige Denkungsart sich getäuscht. Als sie derselben inne wurde, löste sie sofort die Verlobung wieder auf. Dies war die Katastrophe ihres Lebens. Verzweifelung ergriff sie, Stunden lang lief sie in ihrem Zimmer umher, den Kopf gegen die Wand stoßend. Ein heftiges Nervenfieber ergriff sie; nach ihrer Genesung war sie wie verwandelt. Eine tiefe Melancholie bemächtigte sich ihrer. Ihr Zerstreuung zu gewähren, sandten sie die Eltern nach Würzburg, wo ihr Bruder Ernst, mit der Tochter des Philosophen Franz v. Baader ver¬ mählt, seit 1835 als Universitäts-Professor lebte. Das Haus desselben lag in der Nähe der Klinik, und der Anblick der vielen Leidenden, die sie dort hinein tragen sah, war es, der den Gedanken in ihrer Seele weckte, in der Pflege der Leidenden ihren Beruf zu suchen und so ihrem Leben einen neuen Inhalt zu geben. Nach Bonn zurückgekehrt, trat sie ohne Wissen ihrer Eltern durch Ver¬ mittelung eines Freundes in Beziehung zu den Schwestern ans der Kongre¬ gation vom heiligen Karl Borromäus ans Nancy, in deren Gemeinschaft ihre Schwester Anna seit dem achtzehnten Jahre aufgenommen war, und begab sich 1840 nach Nancy, von wo ans sie ihren Eltern erst Mittheilung machte. Theils die Verschlossenheit, die im elterlichen Hause herrschte, theils die Gewi߬ heit, hier heftigen Widerstand zu finden, vor allem aber die Ueberzeugung, daß sie einem göttlichen Rufe folge, hatte sie zu diesem Schritte getrieben. Der Gedanke: „Sag' es niemand, es soll nur zwischen mir und meinem Gott sein", begleitete sie auf allen Wegen. Lange hatte sie mit sich gekämpft; als sie sich zur Klarheit durchgerungen hatte, stand ihr Entschluß fest. Das Eltern¬ haus wurde durch die Nachricht tief erschüttert. Sehr richtig sagen die Erinnerungen: „Es war nicht das eigentliche Kloster- Grenzbvten III. 1379. 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/439>, abgerufen am 24.11.2024.