Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

nothwendiger, ja thunlicher, weil ich durch meine Reise und eine ganz willkürliche
Abwesenheit mich genugsam selbst erklärt habe." Freunde -- vielleicht Onkel
d'Orville? -- vertrauten ihm dagegen, Lili habe, als alle Hindernisse einer Ver¬
bindung ihr vorgestellt worden seien, geäußert, sie wäre im Stande, aus Liebe
zu ihm "alle dermaligen Zustände und Verhältnisse aufzugeben und mit nach
Amerika zu gehen" -- was keineswegs bildlich, sondern wörtlich zu nehmen
war. Es gab wohl Augenblicke, "wo die vergangenen Tage sich wiederherzu¬
stellen schienen", wo alle früheren Hoffnungen und Wünsche wieder hervortraten,
aber sie verschwanden schnell wieder "wie wetterleuchtende Gespenster" . . .
"Als ich in die Umgebung Lili's zurückkam, fühlte ich alle jene MißHelligkeiten
doppelt, die unser Verhältniß gestört hatten; als ich wieder vor sie selbst
hintrat, fiel mir's hart aufs Herz, daß sie sür mich verloren sei."

Dieser summarische Bericht erhält wieder erst das rechte Leben aus den
gleichzeitigen Briefen, in denen ja auch die Fortsetzung des Verhältnisses sich
wiederspiegelt. "Wenn mir's so recht weh ist -- schreibt er am 31. Juli, sechs
Tage nach seiner Ankunft, an Auguste Stolberg -- lehr ich mich nach Norden,
wo sie MiZ dahinten ist zweyhundert Meil von mir . . Gestern Abend hat'
ich so viel Sehnen zu ihren Füssen zu liegen, ihre Hände zu halten, und schlief
drüber ein", und Tags darauf an Sophie La Roche: "Es ist doch immer eine
freundliche Zuflucht, das weise ^weißej Papier, im Augenblick der Noth ein
wahrer theilnehmender Freund, der uns durch keine widrige Ecken des Charack-
ters zurückstößt, wie man's wohl oft just in den Stunden erfährt, da man
am wenigsten so berührt werden mögte."

Den August hindurch und Anfang September scheint Goethe häufiger als
je nach Offenbach gewandert zu sein, wo Lili wohl den größten Theil des
Sommers verbrachte. Zu seinen advokatorischen Geschäften kam er in diesen
Tagen erneuter Aufregung gewiß nicht viel; die Erledigung derselben blieb dem
Vater überlassen. Er selber flüchtete sich zur Poesie; er arbeitete damals fleißig
am "Faust", auch "Egmont" wurde vorgenommen. Bei Onkel d'Orville konnte
er nach wie vor ungehindert mit Lili verkehren; man vergnügte sich an schönen
Sommertagen auf dem Kahn, ritt zusammen aus, musizirte wohl auch des Abends.
In diese Zeit viel eher als in die ersten Maitage paßt es, wenn Goethe
schildert, wie die traute Gesellschaft nach srohgenossenem Abend sich am Morgen
schon wieder im Garten zusammenfand; in diese Zeit wird auch die auf offner
Landstraßelzugebrachte Nacht fallen, die ihm in der Erinnerung geblieben war.
Man war beim klarsten Sternenhimmel bis spät im Freien gewesen, und
nachdem er Lili bis an die Thür begleitet, ging er langsam die Landstraße nach
Frankfurt zu, "sich seinen Gedanken und Hoffnungen zu überlassen". Unter¬
wegs überfiel ihn die Müdigkeit, er setzte sich nieder und schlief ein. Am


nothwendiger, ja thunlicher, weil ich durch meine Reise und eine ganz willkürliche
Abwesenheit mich genugsam selbst erklärt habe." Freunde — vielleicht Onkel
d'Orville? — vertrauten ihm dagegen, Lili habe, als alle Hindernisse einer Ver¬
bindung ihr vorgestellt worden seien, geäußert, sie wäre im Stande, aus Liebe
zu ihm „alle dermaligen Zustände und Verhältnisse aufzugeben und mit nach
Amerika zu gehen" — was keineswegs bildlich, sondern wörtlich zu nehmen
war. Es gab wohl Augenblicke, „wo die vergangenen Tage sich wiederherzu¬
stellen schienen", wo alle früheren Hoffnungen und Wünsche wieder hervortraten,
aber sie verschwanden schnell wieder „wie wetterleuchtende Gespenster" . . .
„Als ich in die Umgebung Lili's zurückkam, fühlte ich alle jene MißHelligkeiten
doppelt, die unser Verhältniß gestört hatten; als ich wieder vor sie selbst
hintrat, fiel mir's hart aufs Herz, daß sie sür mich verloren sei."

Dieser summarische Bericht erhält wieder erst das rechte Leben aus den
gleichzeitigen Briefen, in denen ja auch die Fortsetzung des Verhältnisses sich
wiederspiegelt. „Wenn mir's so recht weh ist — schreibt er am 31. Juli, sechs
Tage nach seiner Ankunft, an Auguste Stolberg — lehr ich mich nach Norden,
wo sie MiZ dahinten ist zweyhundert Meil von mir . . Gestern Abend hat'
ich so viel Sehnen zu ihren Füssen zu liegen, ihre Hände zu halten, und schlief
drüber ein", und Tags darauf an Sophie La Roche: „Es ist doch immer eine
freundliche Zuflucht, das weise ^weißej Papier, im Augenblick der Noth ein
wahrer theilnehmender Freund, der uns durch keine widrige Ecken des Charack-
ters zurückstößt, wie man's wohl oft just in den Stunden erfährt, da man
am wenigsten so berührt werden mögte."

Den August hindurch und Anfang September scheint Goethe häufiger als
je nach Offenbach gewandert zu sein, wo Lili wohl den größten Theil des
Sommers verbrachte. Zu seinen advokatorischen Geschäften kam er in diesen
Tagen erneuter Aufregung gewiß nicht viel; die Erledigung derselben blieb dem
Vater überlassen. Er selber flüchtete sich zur Poesie; er arbeitete damals fleißig
am „Faust", auch „Egmont" wurde vorgenommen. Bei Onkel d'Orville konnte
er nach wie vor ungehindert mit Lili verkehren; man vergnügte sich an schönen
Sommertagen auf dem Kahn, ritt zusammen aus, musizirte wohl auch des Abends.
In diese Zeit viel eher als in die ersten Maitage paßt es, wenn Goethe
schildert, wie die traute Gesellschaft nach srohgenossenem Abend sich am Morgen
schon wieder im Garten zusammenfand; in diese Zeit wird auch die auf offner
Landstraßelzugebrachte Nacht fallen, die ihm in der Erinnerung geblieben war.
Man war beim klarsten Sternenhimmel bis spät im Freien gewesen, und
nachdem er Lili bis an die Thür begleitet, ging er langsam die Landstraße nach
Frankfurt zu, „sich seinen Gedanken und Hoffnungen zu überlassen". Unter¬
wegs überfiel ihn die Müdigkeit, er setzte sich nieder und schlief ein. Am


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0397" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142894"/>
          <p xml:id="ID_1164" prev="#ID_1163"> nothwendiger, ja thunlicher, weil ich durch meine Reise und eine ganz willkürliche<lb/>
Abwesenheit mich genugsam selbst erklärt habe." Freunde &#x2014; vielleicht Onkel<lb/>
d'Orville? &#x2014; vertrauten ihm dagegen, Lili habe, als alle Hindernisse einer Ver¬<lb/>
bindung ihr vorgestellt worden seien, geäußert, sie wäre im Stande, aus Liebe<lb/>
zu ihm &#x201E;alle dermaligen Zustände und Verhältnisse aufzugeben und mit nach<lb/>
Amerika zu gehen" &#x2014; was keineswegs bildlich, sondern wörtlich zu nehmen<lb/>
war. Es gab wohl Augenblicke, &#x201E;wo die vergangenen Tage sich wiederherzu¬<lb/>
stellen schienen", wo alle früheren Hoffnungen und Wünsche wieder hervortraten,<lb/>
aber sie verschwanden schnell wieder &#x201E;wie wetterleuchtende Gespenster" . . .<lb/>
&#x201E;Als ich in die Umgebung Lili's zurückkam, fühlte ich alle jene MißHelligkeiten<lb/>
doppelt, die unser Verhältniß gestört hatten; als ich wieder vor sie selbst<lb/>
hintrat, fiel mir's hart aufs Herz, daß sie sür mich verloren sei."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1165"> Dieser summarische Bericht erhält wieder erst das rechte Leben aus den<lb/>
gleichzeitigen Briefen, in denen ja auch die Fortsetzung des Verhältnisses sich<lb/>
wiederspiegelt. &#x201E;Wenn mir's so recht weh ist &#x2014; schreibt er am 31. Juli, sechs<lb/>
Tage nach seiner Ankunft, an Auguste Stolberg &#x2014; lehr ich mich nach Norden,<lb/>
wo sie MiZ dahinten ist zweyhundert Meil von mir . . Gestern Abend hat'<lb/>
ich so viel Sehnen zu ihren Füssen zu liegen, ihre Hände zu halten, und schlief<lb/>
drüber ein", und Tags darauf an Sophie La Roche: &#x201E;Es ist doch immer eine<lb/>
freundliche Zuflucht, das weise ^weißej Papier, im Augenblick der Noth ein<lb/>
wahrer theilnehmender Freund, der uns durch keine widrige Ecken des Charack-<lb/>
ters zurückstößt, wie man's wohl oft just in den Stunden erfährt, da man<lb/>
am wenigsten so berührt werden mögte."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1166" next="#ID_1167"> Den August hindurch und Anfang September scheint Goethe häufiger als<lb/>
je nach Offenbach gewandert zu sein, wo Lili wohl den größten Theil des<lb/>
Sommers verbrachte. Zu seinen advokatorischen Geschäften kam er in diesen<lb/>
Tagen erneuter Aufregung gewiß nicht viel; die Erledigung derselben blieb dem<lb/>
Vater überlassen. Er selber flüchtete sich zur Poesie; er arbeitete damals fleißig<lb/>
am &#x201E;Faust", auch &#x201E;Egmont" wurde vorgenommen. Bei Onkel d'Orville konnte<lb/>
er nach wie vor ungehindert mit Lili verkehren; man vergnügte sich an schönen<lb/>
Sommertagen auf dem Kahn, ritt zusammen aus, musizirte wohl auch des Abends.<lb/>
In diese Zeit viel eher als in die ersten Maitage paßt es, wenn Goethe<lb/>
schildert, wie die traute Gesellschaft nach srohgenossenem Abend sich am Morgen<lb/>
schon wieder im Garten zusammenfand; in diese Zeit wird auch die auf offner<lb/>
Landstraßelzugebrachte Nacht fallen, die ihm in der Erinnerung geblieben war.<lb/>
Man war beim klarsten Sternenhimmel bis spät im Freien gewesen, und<lb/>
nachdem er Lili bis an die Thür begleitet, ging er langsam die Landstraße nach<lb/>
Frankfurt zu, &#x201E;sich seinen Gedanken und Hoffnungen zu überlassen". Unter¬<lb/>
wegs überfiel ihn die Müdigkeit, er setzte sich nieder und schlief ein. Am</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0397] nothwendiger, ja thunlicher, weil ich durch meine Reise und eine ganz willkürliche Abwesenheit mich genugsam selbst erklärt habe." Freunde — vielleicht Onkel d'Orville? — vertrauten ihm dagegen, Lili habe, als alle Hindernisse einer Ver¬ bindung ihr vorgestellt worden seien, geäußert, sie wäre im Stande, aus Liebe zu ihm „alle dermaligen Zustände und Verhältnisse aufzugeben und mit nach Amerika zu gehen" — was keineswegs bildlich, sondern wörtlich zu nehmen war. Es gab wohl Augenblicke, „wo die vergangenen Tage sich wiederherzu¬ stellen schienen", wo alle früheren Hoffnungen und Wünsche wieder hervortraten, aber sie verschwanden schnell wieder „wie wetterleuchtende Gespenster" . . . „Als ich in die Umgebung Lili's zurückkam, fühlte ich alle jene MißHelligkeiten doppelt, die unser Verhältniß gestört hatten; als ich wieder vor sie selbst hintrat, fiel mir's hart aufs Herz, daß sie sür mich verloren sei." Dieser summarische Bericht erhält wieder erst das rechte Leben aus den gleichzeitigen Briefen, in denen ja auch die Fortsetzung des Verhältnisses sich wiederspiegelt. „Wenn mir's so recht weh ist — schreibt er am 31. Juli, sechs Tage nach seiner Ankunft, an Auguste Stolberg — lehr ich mich nach Norden, wo sie MiZ dahinten ist zweyhundert Meil von mir . . Gestern Abend hat' ich so viel Sehnen zu ihren Füssen zu liegen, ihre Hände zu halten, und schlief drüber ein", und Tags darauf an Sophie La Roche: „Es ist doch immer eine freundliche Zuflucht, das weise ^weißej Papier, im Augenblick der Noth ein wahrer theilnehmender Freund, der uns durch keine widrige Ecken des Charack- ters zurückstößt, wie man's wohl oft just in den Stunden erfährt, da man am wenigsten so berührt werden mögte." Den August hindurch und Anfang September scheint Goethe häufiger als je nach Offenbach gewandert zu sein, wo Lili wohl den größten Theil des Sommers verbrachte. Zu seinen advokatorischen Geschäften kam er in diesen Tagen erneuter Aufregung gewiß nicht viel; die Erledigung derselben blieb dem Vater überlassen. Er selber flüchtete sich zur Poesie; er arbeitete damals fleißig am „Faust", auch „Egmont" wurde vorgenommen. Bei Onkel d'Orville konnte er nach wie vor ungehindert mit Lili verkehren; man vergnügte sich an schönen Sommertagen auf dem Kahn, ritt zusammen aus, musizirte wohl auch des Abends. In diese Zeit viel eher als in die ersten Maitage paßt es, wenn Goethe schildert, wie die traute Gesellschaft nach srohgenossenem Abend sich am Morgen schon wieder im Garten zusammenfand; in diese Zeit wird auch die auf offner Landstraßelzugebrachte Nacht fallen, die ihm in der Erinnerung geblieben war. Man war beim klarsten Sternenhimmel bis spät im Freien gewesen, und nachdem er Lili bis an die Thür begleitet, ging er langsam die Landstraße nach Frankfurt zu, „sich seinen Gedanken und Hoffnungen zu überlassen". Unter¬ wegs überfiel ihn die Müdigkeit, er setzte sich nieder und schlief ein. Am

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/397
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/397>, abgerufen am 01.09.2024.