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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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aus, welchen sie verbannen wollen, es koste was es wolle. Die angenehme
Verfluchung ihrer vorigen Ausschweifungen schmeichelt noch immer der sterbenden
Neigung, und die Thränen über die Sünden sind fast immer mit solchen
Tropfen vermischt, welche ans einer zweideutigen Zärtlichkeit entspringen. Aus
diesem Grund kann ein alter Mann allemal bei seiner Frömmigkeit des Ver¬
gnügens der Rene genießen; aus eben diesem Grund fließt die gemeine klöster¬
liche Andacht, wie Se. Pierre schon angemerkt hat, indem er keinem rathen
will in's Kloster zu gehn, der nicht einen solchen Vorrath von Sünden ge¬
macht, daß es ihm niemals am Vergnügen der Rene fehlen könne."

Möser war 26 Jahre alt, als er das schrieb; der Zensor strich das Ganze.
Ein späteres Fragment einer Selbstbiographie klingt aber noch lebhaft an diese
Jugendschrift an. "Unter allen guten und bösen Eigenschaften, die ich von mir
anzugeben weiß, triumphirt die Eigenliebe; und ihr Triumph ist daun am
vollkommensten, wenn ich mich in den höchsten Grad der Aufrichtigkeit versetzt
habe. Ich muß oft über die schlauen Wendungen lachen, wodurch mich meine
Eigenliebe zu ihrem Zweck führt. Mein Glück ist, daß mich die Natur mit
einem sehr ehrbaren Gesicht und grade mit soviel Phlegma beschenkt hat, als
nöthig ist, um meine lebhafte Empfindung aller Gegenstände zurückzuhalten.
Nur in meinem Lehnstuhl oder an meinem Schreibtisch lache ich oft ungesehn
und ungehört; aber in Gesellschaften und selbst unter meinen besten Freunden
schützt mich mein Phlegma wider alle bittern Ausbrüche meines Herzens."

Dieser scharfe Blick in das Einzelne, an sich nicht ohne Gefahr, wurde bei
Möser korrigirt durch einen freien Blick in's Große. "Können Sie mir ein
einziges schönes Stück aus der physikalischen Welt nennen, welches unter dem
Mikroskop seine vorige Schönheit behielte? Jede Sache hat ihren Gesichts¬
punkt, worin sie allein schön ist; sobald Sie diesen verändern, sobald Sie mit
dem anatomischen Messer in das Eingeweide schneiden, verfliegt die Schönheit.
Was Ihnen durch das Vergrößerungsglas ein rauhes Ding scheint, wird dem
unbewaffneten Auge eine liebliche Gestalt; der Berg in der Nähe ist voller
Höhlen, aber unten, in der Ferne, wie prächtig! -- Wenn das in der physi¬
kalischen Welt wahr ist, warum nicht in der moralischen? -- Setzen Sie Ihren
Helden einmal auf die Nadelspitze und lassen ihn unter Ihrem moralischen
Mikroskop Männchen machen! Nicht wahr? Sie finden ihn recht schwarz,
grausam, geizig und seinem Bruder ungetreu? -- Aber treten Sie zurück: wie
groß wieder! -- Wer heißt Sie nun die Schönheit dieses großen Eindrucks
um deswillen anfechten, weil die dazu wirkenden Theile bei immer schärferer
Untersuchung so häßlich sind? -- Die Leute, welche von der Falschheit der
menschlichen Tugenden schreiben, wollen immer Funel ohne Fäulung haben,
und Blitze die nicht zünden. -- Wir wollen die Tugend blos für die Tang-


aus, welchen sie verbannen wollen, es koste was es wolle. Die angenehme
Verfluchung ihrer vorigen Ausschweifungen schmeichelt noch immer der sterbenden
Neigung, und die Thränen über die Sünden sind fast immer mit solchen
Tropfen vermischt, welche ans einer zweideutigen Zärtlichkeit entspringen. Aus
diesem Grund kann ein alter Mann allemal bei seiner Frömmigkeit des Ver¬
gnügens der Rene genießen; aus eben diesem Grund fließt die gemeine klöster¬
liche Andacht, wie Se. Pierre schon angemerkt hat, indem er keinem rathen
will in's Kloster zu gehn, der nicht einen solchen Vorrath von Sünden ge¬
macht, daß es ihm niemals am Vergnügen der Rene fehlen könne."

Möser war 26 Jahre alt, als er das schrieb; der Zensor strich das Ganze.
Ein späteres Fragment einer Selbstbiographie klingt aber noch lebhaft an diese
Jugendschrift an. „Unter allen guten und bösen Eigenschaften, die ich von mir
anzugeben weiß, triumphirt die Eigenliebe; und ihr Triumph ist daun am
vollkommensten, wenn ich mich in den höchsten Grad der Aufrichtigkeit versetzt
habe. Ich muß oft über die schlauen Wendungen lachen, wodurch mich meine
Eigenliebe zu ihrem Zweck führt. Mein Glück ist, daß mich die Natur mit
einem sehr ehrbaren Gesicht und grade mit soviel Phlegma beschenkt hat, als
nöthig ist, um meine lebhafte Empfindung aller Gegenstände zurückzuhalten.
Nur in meinem Lehnstuhl oder an meinem Schreibtisch lache ich oft ungesehn
und ungehört; aber in Gesellschaften und selbst unter meinen besten Freunden
schützt mich mein Phlegma wider alle bittern Ausbrüche meines Herzens."

Dieser scharfe Blick in das Einzelne, an sich nicht ohne Gefahr, wurde bei
Möser korrigirt durch einen freien Blick in's Große. „Können Sie mir ein
einziges schönes Stück aus der physikalischen Welt nennen, welches unter dem
Mikroskop seine vorige Schönheit behielte? Jede Sache hat ihren Gesichts¬
punkt, worin sie allein schön ist; sobald Sie diesen verändern, sobald Sie mit
dem anatomischen Messer in das Eingeweide schneiden, verfliegt die Schönheit.
Was Ihnen durch das Vergrößerungsglas ein rauhes Ding scheint, wird dem
unbewaffneten Auge eine liebliche Gestalt; der Berg in der Nähe ist voller
Höhlen, aber unten, in der Ferne, wie prächtig! — Wenn das in der physi¬
kalischen Welt wahr ist, warum nicht in der moralischen? — Setzen Sie Ihren
Helden einmal auf die Nadelspitze und lassen ihn unter Ihrem moralischen
Mikroskop Männchen machen! Nicht wahr? Sie finden ihn recht schwarz,
grausam, geizig und seinem Bruder ungetreu? — Aber treten Sie zurück: wie
groß wieder! — Wer heißt Sie nun die Schönheit dieses großen Eindrucks
um deswillen anfechten, weil die dazu wirkenden Theile bei immer schärferer
Untersuchung so häßlich sind? — Die Leute, welche von der Falschheit der
menschlichen Tugenden schreiben, wollen immer Funel ohne Fäulung haben,
und Blitze die nicht zünden. — Wir wollen die Tugend blos für die Tang-


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[0038] aus, welchen sie verbannen wollen, es koste was es wolle. Die angenehme Verfluchung ihrer vorigen Ausschweifungen schmeichelt noch immer der sterbenden Neigung, und die Thränen über die Sünden sind fast immer mit solchen Tropfen vermischt, welche ans einer zweideutigen Zärtlichkeit entspringen. Aus diesem Grund kann ein alter Mann allemal bei seiner Frömmigkeit des Ver¬ gnügens der Rene genießen; aus eben diesem Grund fließt die gemeine klöster¬ liche Andacht, wie Se. Pierre schon angemerkt hat, indem er keinem rathen will in's Kloster zu gehn, der nicht einen solchen Vorrath von Sünden ge¬ macht, daß es ihm niemals am Vergnügen der Rene fehlen könne." Möser war 26 Jahre alt, als er das schrieb; der Zensor strich das Ganze. Ein späteres Fragment einer Selbstbiographie klingt aber noch lebhaft an diese Jugendschrift an. „Unter allen guten und bösen Eigenschaften, die ich von mir anzugeben weiß, triumphirt die Eigenliebe; und ihr Triumph ist daun am vollkommensten, wenn ich mich in den höchsten Grad der Aufrichtigkeit versetzt habe. Ich muß oft über die schlauen Wendungen lachen, wodurch mich meine Eigenliebe zu ihrem Zweck führt. Mein Glück ist, daß mich die Natur mit einem sehr ehrbaren Gesicht und grade mit soviel Phlegma beschenkt hat, als nöthig ist, um meine lebhafte Empfindung aller Gegenstände zurückzuhalten. Nur in meinem Lehnstuhl oder an meinem Schreibtisch lache ich oft ungesehn und ungehört; aber in Gesellschaften und selbst unter meinen besten Freunden schützt mich mein Phlegma wider alle bittern Ausbrüche meines Herzens." Dieser scharfe Blick in das Einzelne, an sich nicht ohne Gefahr, wurde bei Möser korrigirt durch einen freien Blick in's Große. „Können Sie mir ein einziges schönes Stück aus der physikalischen Welt nennen, welches unter dem Mikroskop seine vorige Schönheit behielte? Jede Sache hat ihren Gesichts¬ punkt, worin sie allein schön ist; sobald Sie diesen verändern, sobald Sie mit dem anatomischen Messer in das Eingeweide schneiden, verfliegt die Schönheit. Was Ihnen durch das Vergrößerungsglas ein rauhes Ding scheint, wird dem unbewaffneten Auge eine liebliche Gestalt; der Berg in der Nähe ist voller Höhlen, aber unten, in der Ferne, wie prächtig! — Wenn das in der physi¬ kalischen Welt wahr ist, warum nicht in der moralischen? — Setzen Sie Ihren Helden einmal auf die Nadelspitze und lassen ihn unter Ihrem moralischen Mikroskop Männchen machen! Nicht wahr? Sie finden ihn recht schwarz, grausam, geizig und seinem Bruder ungetreu? — Aber treten Sie zurück: wie groß wieder! — Wer heißt Sie nun die Schönheit dieses großen Eindrucks um deswillen anfechten, weil die dazu wirkenden Theile bei immer schärferer Untersuchung so häßlich sind? — Die Leute, welche von der Falschheit der menschlichen Tugenden schreiben, wollen immer Funel ohne Fäulung haben, und Blitze die nicht zünden. — Wir wollen die Tugend blos für die Tang-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/38>, abgerufen am 24.11.2024.