Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

erschreckendsten Einfälle durchgehen. Auch fehlte es nicht an Anknüpfungs¬
punkten. Möser's "Spinnstube", das Schreiben einer Mutter über den Putz
ihrer Kinder, eines Meiers über den Putz seiner Fran ("sie tanzte gut und
kochte schlecht" u. s. w.) erinnern an Raben er: der gleiche Kampf gegen
Unnatur, Etikette, Prunksucht, Nachäfferei, Schlaffheit, Empfindelei; dieselbe
Verherrlichung schlichter Bürgerlichkeit. Aber Rabener's Gesichtspunkte sind
kleinbürgerlich; Möser ist bei den höheren Ständen, sowie bei Bauern, Bettlern,
Vagabunden völlig zu Hause, die denn doch ein ganz andres individuelles
Leben bewahrt haben als die armen Kandidaten, Hofmeister und Honoratioren
Rabener's. Sein Stil, plastisch und scharf bestimmt wie der Lessing's, ist ge¬
sättigt dnrch die konkreten Anschauungen des weltkundigen Juristen und des
gelehrten Geschichtsforschers.

Verhältnißmäßig spät, im 20. Jahre -- weil sein Vater, so lange die
Werber Friedrich Wilhelm's I. ihr Wesen trieben, sich scheute, den stattlichen
Jüngling, der fast sechs Fuß maß, außer Landes zu schicken --, bezog er die
Universität, erst Jena, dann Göttingen. Nach Ablauf des juristischen Trien-
niums erhielt er eine Sekretärstelle bei der Ritterschaft.

Die Verfassung des Bisthums Osnabrück war eigenthümlich. Die Land¬
stände bestanden aus drei Körperschaften: dem Domkapitel, welches den Bischof
wählte, und in welchem nnr drei Evangelische saßen; der Ritterschaft, über¬
wiegend protestantisch; und der Deputation der Städte. Der Regent mußte
abwechselnd katholisch und protestantisch sein. Ans dem Lande herrschte die
Leibeigenschaft, doch in milder Form.

Im 25. Jahre wurde Möser die einflußreiche Stelle eines ^.clvoe^tus
?g.triao aufgetragen: als solcher hatte er die Prozesse des Fiskus gegen Ein¬
heimische und Auswärtige zu führen; bald darauf wurde er auch Syndikus
der Ritterschaft und vertrat nicht selten in einem Rechtshändel beide Parteien,
stets zur beiderseitigen Zufriedenheit. Im 26. Jahre heirathete er: eine präch¬
tige Frau, mit der er 41 Jahre in glücklicher Ehe lebte. Seine Existenz war
geräumig, sein Haus das gastfreieste der Gegeud, seine Bekanntschaft von einer
seltenen Ausbreitung; von nah und .fern kam ihm unbedingtes Vertrauen
entgegen.

Der Mittelpunkt seines Lebens war sein Amt; die Schriftstellern trieb er
nur in seinen Mußestunden und fast immer in Beziehung auf seine. Geschäfte.
Vom Standpunkte eines praktischen Juristen aus suchte er sich mit dem Publi¬
kum zu verständigen; die Erfahrungen seines kleinen Kreises, der freilich mehr
Individualität besaß als irgend ein Fleck des heiligen Römischen Reichs, dehnte
er auf das Allgemeine aus. Dafür war freilich Osnabrück ein sehr ergiebiger
Boden.


erschreckendsten Einfälle durchgehen. Auch fehlte es nicht an Anknüpfungs¬
punkten. Möser's „Spinnstube", das Schreiben einer Mutter über den Putz
ihrer Kinder, eines Meiers über den Putz seiner Fran („sie tanzte gut und
kochte schlecht" u. s. w.) erinnern an Raben er: der gleiche Kampf gegen
Unnatur, Etikette, Prunksucht, Nachäfferei, Schlaffheit, Empfindelei; dieselbe
Verherrlichung schlichter Bürgerlichkeit. Aber Rabener's Gesichtspunkte sind
kleinbürgerlich; Möser ist bei den höheren Ständen, sowie bei Bauern, Bettlern,
Vagabunden völlig zu Hause, die denn doch ein ganz andres individuelles
Leben bewahrt haben als die armen Kandidaten, Hofmeister und Honoratioren
Rabener's. Sein Stil, plastisch und scharf bestimmt wie der Lessing's, ist ge¬
sättigt dnrch die konkreten Anschauungen des weltkundigen Juristen und des
gelehrten Geschichtsforschers.

Verhältnißmäßig spät, im 20. Jahre — weil sein Vater, so lange die
Werber Friedrich Wilhelm's I. ihr Wesen trieben, sich scheute, den stattlichen
Jüngling, der fast sechs Fuß maß, außer Landes zu schicken —, bezog er die
Universität, erst Jena, dann Göttingen. Nach Ablauf des juristischen Trien-
niums erhielt er eine Sekretärstelle bei der Ritterschaft.

Die Verfassung des Bisthums Osnabrück war eigenthümlich. Die Land¬
stände bestanden aus drei Körperschaften: dem Domkapitel, welches den Bischof
wählte, und in welchem nnr drei Evangelische saßen; der Ritterschaft, über¬
wiegend protestantisch; und der Deputation der Städte. Der Regent mußte
abwechselnd katholisch und protestantisch sein. Ans dem Lande herrschte die
Leibeigenschaft, doch in milder Form.

Im 25. Jahre wurde Möser die einflußreiche Stelle eines ^.clvoe^tus
?g.triao aufgetragen: als solcher hatte er die Prozesse des Fiskus gegen Ein¬
heimische und Auswärtige zu führen; bald darauf wurde er auch Syndikus
der Ritterschaft und vertrat nicht selten in einem Rechtshändel beide Parteien,
stets zur beiderseitigen Zufriedenheit. Im 26. Jahre heirathete er: eine präch¬
tige Frau, mit der er 41 Jahre in glücklicher Ehe lebte. Seine Existenz war
geräumig, sein Haus das gastfreieste der Gegeud, seine Bekanntschaft von einer
seltenen Ausbreitung; von nah und .fern kam ihm unbedingtes Vertrauen
entgegen.

Der Mittelpunkt seines Lebens war sein Amt; die Schriftstellern trieb er
nur in seinen Mußestunden und fast immer in Beziehung auf seine. Geschäfte.
Vom Standpunkte eines praktischen Juristen aus suchte er sich mit dem Publi¬
kum zu verständigen; die Erfahrungen seines kleinen Kreises, der freilich mehr
Individualität besaß als irgend ein Fleck des heiligen Römischen Reichs, dehnte
er auf das Allgemeine aus. Dafür war freilich Osnabrück ein sehr ergiebiger
Boden.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0035" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142532"/>
          <p xml:id="ID_102" prev="#ID_101"> erschreckendsten Einfälle durchgehen. Auch fehlte es nicht an Anknüpfungs¬<lb/>
punkten. Möser's &#x201E;Spinnstube", das Schreiben einer Mutter über den Putz<lb/>
ihrer Kinder, eines Meiers über den Putz seiner Fran (&#x201E;sie tanzte gut und<lb/>
kochte schlecht" u. s. w.) erinnern an Raben er: der gleiche Kampf gegen<lb/>
Unnatur, Etikette, Prunksucht, Nachäfferei, Schlaffheit, Empfindelei; dieselbe<lb/>
Verherrlichung schlichter Bürgerlichkeit. Aber Rabener's Gesichtspunkte sind<lb/>
kleinbürgerlich; Möser ist bei den höheren Ständen, sowie bei Bauern, Bettlern,<lb/>
Vagabunden völlig zu Hause, die denn doch ein ganz andres individuelles<lb/>
Leben bewahrt haben als die armen Kandidaten, Hofmeister und Honoratioren<lb/>
Rabener's. Sein Stil, plastisch und scharf bestimmt wie der Lessing's, ist ge¬<lb/>
sättigt dnrch die konkreten Anschauungen des weltkundigen Juristen und des<lb/>
gelehrten Geschichtsforschers.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_103"> Verhältnißmäßig spät, im 20. Jahre &#x2014; weil sein Vater, so lange die<lb/>
Werber Friedrich Wilhelm's I. ihr Wesen trieben, sich scheute, den stattlichen<lb/>
Jüngling, der fast sechs Fuß maß, außer Landes zu schicken &#x2014;, bezog er die<lb/>
Universität, erst Jena, dann Göttingen. Nach Ablauf des juristischen Trien-<lb/>
niums erhielt er eine Sekretärstelle bei der Ritterschaft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_104"> Die Verfassung des Bisthums Osnabrück war eigenthümlich. Die Land¬<lb/>
stände bestanden aus drei Körperschaften: dem Domkapitel, welches den Bischof<lb/>
wählte, und in welchem nnr drei Evangelische saßen; der Ritterschaft, über¬<lb/>
wiegend protestantisch; und der Deputation der Städte. Der Regent mußte<lb/>
abwechselnd katholisch und protestantisch sein. Ans dem Lande herrschte die<lb/>
Leibeigenschaft, doch in milder Form.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_105"> Im 25. Jahre wurde Möser die einflußreiche Stelle eines ^.clvoe^tus<lb/>
?g.triao aufgetragen: als solcher hatte er die Prozesse des Fiskus gegen Ein¬<lb/>
heimische und Auswärtige zu führen; bald darauf wurde er auch Syndikus<lb/>
der Ritterschaft und vertrat nicht selten in einem Rechtshändel beide Parteien,<lb/>
stets zur beiderseitigen Zufriedenheit. Im 26. Jahre heirathete er: eine präch¬<lb/>
tige Frau, mit der er 41 Jahre in glücklicher Ehe lebte. Seine Existenz war<lb/>
geräumig, sein Haus das gastfreieste der Gegeud, seine Bekanntschaft von einer<lb/>
seltenen Ausbreitung; von nah und .fern kam ihm unbedingtes Vertrauen<lb/>
entgegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_106"> Der Mittelpunkt seines Lebens war sein Amt; die Schriftstellern trieb er<lb/>
nur in seinen Mußestunden und fast immer in Beziehung auf seine. Geschäfte.<lb/>
Vom Standpunkte eines praktischen Juristen aus suchte er sich mit dem Publi¬<lb/>
kum zu verständigen; die Erfahrungen seines kleinen Kreises, der freilich mehr<lb/>
Individualität besaß als irgend ein Fleck des heiligen Römischen Reichs, dehnte<lb/>
er auf das Allgemeine aus. Dafür war freilich Osnabrück ein sehr ergiebiger<lb/>
Boden.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0035] erschreckendsten Einfälle durchgehen. Auch fehlte es nicht an Anknüpfungs¬ punkten. Möser's „Spinnstube", das Schreiben einer Mutter über den Putz ihrer Kinder, eines Meiers über den Putz seiner Fran („sie tanzte gut und kochte schlecht" u. s. w.) erinnern an Raben er: der gleiche Kampf gegen Unnatur, Etikette, Prunksucht, Nachäfferei, Schlaffheit, Empfindelei; dieselbe Verherrlichung schlichter Bürgerlichkeit. Aber Rabener's Gesichtspunkte sind kleinbürgerlich; Möser ist bei den höheren Ständen, sowie bei Bauern, Bettlern, Vagabunden völlig zu Hause, die denn doch ein ganz andres individuelles Leben bewahrt haben als die armen Kandidaten, Hofmeister und Honoratioren Rabener's. Sein Stil, plastisch und scharf bestimmt wie der Lessing's, ist ge¬ sättigt dnrch die konkreten Anschauungen des weltkundigen Juristen und des gelehrten Geschichtsforschers. Verhältnißmäßig spät, im 20. Jahre — weil sein Vater, so lange die Werber Friedrich Wilhelm's I. ihr Wesen trieben, sich scheute, den stattlichen Jüngling, der fast sechs Fuß maß, außer Landes zu schicken —, bezog er die Universität, erst Jena, dann Göttingen. Nach Ablauf des juristischen Trien- niums erhielt er eine Sekretärstelle bei der Ritterschaft. Die Verfassung des Bisthums Osnabrück war eigenthümlich. Die Land¬ stände bestanden aus drei Körperschaften: dem Domkapitel, welches den Bischof wählte, und in welchem nnr drei Evangelische saßen; der Ritterschaft, über¬ wiegend protestantisch; und der Deputation der Städte. Der Regent mußte abwechselnd katholisch und protestantisch sein. Ans dem Lande herrschte die Leibeigenschaft, doch in milder Form. Im 25. Jahre wurde Möser die einflußreiche Stelle eines ^.clvoe^tus ?g.triao aufgetragen: als solcher hatte er die Prozesse des Fiskus gegen Ein¬ heimische und Auswärtige zu führen; bald darauf wurde er auch Syndikus der Ritterschaft und vertrat nicht selten in einem Rechtshändel beide Parteien, stets zur beiderseitigen Zufriedenheit. Im 26. Jahre heirathete er: eine präch¬ tige Frau, mit der er 41 Jahre in glücklicher Ehe lebte. Seine Existenz war geräumig, sein Haus das gastfreieste der Gegeud, seine Bekanntschaft von einer seltenen Ausbreitung; von nah und .fern kam ihm unbedingtes Vertrauen entgegen. Der Mittelpunkt seines Lebens war sein Amt; die Schriftstellern trieb er nur in seinen Mußestunden und fast immer in Beziehung auf seine. Geschäfte. Vom Standpunkte eines praktischen Juristen aus suchte er sich mit dem Publi¬ kum zu verständigen; die Erfahrungen seines kleinen Kreises, der freilich mehr Individualität besaß als irgend ein Fleck des heiligen Römischen Reichs, dehnte er auf das Allgemeine aus. Dafür war freilich Osnabrück ein sehr ergiebiger Boden.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/35
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/35>, abgerufen am 25.11.2024.