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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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wohlthuend gegen die Geßner'schen Idyllen abstach; zum ersten Male ging man
auf Wirklichkeit aus. Auch die Franzosen, die überhaupt mit der Schweiz
immer Fühlung behielten, wurden aufmerksam darauf. Als Hirzel, Jselin,
Usteri, Geßner, Lavater, Füßli u. a. die "Helvetische Gesellschaft"
gründeten, deren Zweck war, "die Gesetze und Staatsveränderungen der Eid¬
genossenschaft sowohl als die Sitten und die Gelehrsamkeit ihrer Bürger in
den verschiedenen Zeitaltern der Republik nach den echten Grundsätzen der
Geschichte in ihr wahres Licht zu setzen", ernannten sie Mendelssohn zum
Ehrenmitglieds: bei seiner Abneigung gegen die Geschichte ein wunderliches
Kompliment.

Im April 1761 erhielten die Herausgeber der "Literaturbriefe" ein kleines
Werk, das sie sehr interessirte: "Harlekin oder die Vertheidigung des Grotesk¬
komischen".

Harlekin fordert Lessing, der sich seiner einst so warm gegen Gottsched
angenommen, auf, zu feiner völligen Wiederherstellung mitzuwirken. Es sei
eine Thorheit, zu verlangen, daß jede Kunst durch den Nachweis eines mora¬
lischen Zweckes sich legitimire. Tanzen wir etwa, um unsern Körper gesund
zu erhalten? Hören wir eine lustige Musik, um unsere Herzen zu bekehren?
Das Vergnügen ist an sich gut. Es kann der größte Lobspruch für eine Oper
sein, die ihre Welt für sich hat, daß sie gegen die unsere ganz unnatürlich
aussieht. Auch die Karrikatur hat ihre Vorzüge: Menschen, die sich in einer
gewissen Entfernung von der Wahrheit befinden, müssen durch Vergrößerung
der Gestalten zu einem deutlichen Gesichtspunkte gelangen. Selbst im Leben
des Weisen hat eine muthwillige, vom Verstandesballast befreite Ausgelassenheit
ihre Rechte. "Strenge Sittenlehrer mögen immer die Kastraten vom Fegefeuer
befreien und die schönen Sängerinnen dort ihre Verlornen Stunden nachholen
lassen: ich werde das Glück der Ersteren nicht beneiden, und hoffentlich mit
meiner ArZeit für das allgemeine Vergnügen die Strafe der Letzteren nicht
verdienen."

Der Verfasser dieser kleinen Schrift, Justizamtmann Justus Möser in
Osnabrück, damals 40 jährig, ging in der Vertheidigung grotesker Typen noch
weiter: halb im Ernst, halb im Scherz verlangte er die Wiederherstellung des
Geckenordens. "Man rühmt es zwar unsern großen Vorfahren nach, daß sie
zum Zeitvertreib viel auf brüderliches Trinken gehalten, und darin die ganze
Wollust politischer Verschwörungen genossen hätten; auch redet man nie von
ihren Töchtern, ohne sich Prinzessinnen vorzustellen, die in treuer Liebe in
hohem Stil ihre Feierabende zugebracht hätten. Allein man mag ihnen ihr
Trinken, ihre Verschwörungen und ihre Abenteuer noch so hoch anrechnen, so
bleibt es doch ein Räthsel, wie sie ohne Kartenspiel, ohne Romanlektüre und


wohlthuend gegen die Geßner'schen Idyllen abstach; zum ersten Male ging man
auf Wirklichkeit aus. Auch die Franzosen, die überhaupt mit der Schweiz
immer Fühlung behielten, wurden aufmerksam darauf. Als Hirzel, Jselin,
Usteri, Geßner, Lavater, Füßli u. a. die „Helvetische Gesellschaft"
gründeten, deren Zweck war, „die Gesetze und Staatsveränderungen der Eid¬
genossenschaft sowohl als die Sitten und die Gelehrsamkeit ihrer Bürger in
den verschiedenen Zeitaltern der Republik nach den echten Grundsätzen der
Geschichte in ihr wahres Licht zu setzen", ernannten sie Mendelssohn zum
Ehrenmitglieds: bei seiner Abneigung gegen die Geschichte ein wunderliches
Kompliment.

Im April 1761 erhielten die Herausgeber der „Literaturbriefe" ein kleines
Werk, das sie sehr interessirte: „Harlekin oder die Vertheidigung des Grotesk¬
komischen".

Harlekin fordert Lessing, der sich seiner einst so warm gegen Gottsched
angenommen, auf, zu feiner völligen Wiederherstellung mitzuwirken. Es sei
eine Thorheit, zu verlangen, daß jede Kunst durch den Nachweis eines mora¬
lischen Zweckes sich legitimire. Tanzen wir etwa, um unsern Körper gesund
zu erhalten? Hören wir eine lustige Musik, um unsere Herzen zu bekehren?
Das Vergnügen ist an sich gut. Es kann der größte Lobspruch für eine Oper
sein, die ihre Welt für sich hat, daß sie gegen die unsere ganz unnatürlich
aussieht. Auch die Karrikatur hat ihre Vorzüge: Menschen, die sich in einer
gewissen Entfernung von der Wahrheit befinden, müssen durch Vergrößerung
der Gestalten zu einem deutlichen Gesichtspunkte gelangen. Selbst im Leben
des Weisen hat eine muthwillige, vom Verstandesballast befreite Ausgelassenheit
ihre Rechte. „Strenge Sittenlehrer mögen immer die Kastraten vom Fegefeuer
befreien und die schönen Sängerinnen dort ihre Verlornen Stunden nachholen
lassen: ich werde das Glück der Ersteren nicht beneiden, und hoffentlich mit
meiner ArZeit für das allgemeine Vergnügen die Strafe der Letzteren nicht
verdienen."

Der Verfasser dieser kleinen Schrift, Justizamtmann Justus Möser in
Osnabrück, damals 40 jährig, ging in der Vertheidigung grotesker Typen noch
weiter: halb im Ernst, halb im Scherz verlangte er die Wiederherstellung des
Geckenordens. „Man rühmt es zwar unsern großen Vorfahren nach, daß sie
zum Zeitvertreib viel auf brüderliches Trinken gehalten, und darin die ganze
Wollust politischer Verschwörungen genossen hätten; auch redet man nie von
ihren Töchtern, ohne sich Prinzessinnen vorzustellen, die in treuer Liebe in
hohem Stil ihre Feierabende zugebracht hätten. Allein man mag ihnen ihr
Trinken, ihre Verschwörungen und ihre Abenteuer noch so hoch anrechnen, so
bleibt es doch ein Räthsel, wie sie ohne Kartenspiel, ohne Romanlektüre und


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[0033] wohlthuend gegen die Geßner'schen Idyllen abstach; zum ersten Male ging man auf Wirklichkeit aus. Auch die Franzosen, die überhaupt mit der Schweiz immer Fühlung behielten, wurden aufmerksam darauf. Als Hirzel, Jselin, Usteri, Geßner, Lavater, Füßli u. a. die „Helvetische Gesellschaft" gründeten, deren Zweck war, „die Gesetze und Staatsveränderungen der Eid¬ genossenschaft sowohl als die Sitten und die Gelehrsamkeit ihrer Bürger in den verschiedenen Zeitaltern der Republik nach den echten Grundsätzen der Geschichte in ihr wahres Licht zu setzen", ernannten sie Mendelssohn zum Ehrenmitglieds: bei seiner Abneigung gegen die Geschichte ein wunderliches Kompliment. Im April 1761 erhielten die Herausgeber der „Literaturbriefe" ein kleines Werk, das sie sehr interessirte: „Harlekin oder die Vertheidigung des Grotesk¬ komischen". Harlekin fordert Lessing, der sich seiner einst so warm gegen Gottsched angenommen, auf, zu feiner völligen Wiederherstellung mitzuwirken. Es sei eine Thorheit, zu verlangen, daß jede Kunst durch den Nachweis eines mora¬ lischen Zweckes sich legitimire. Tanzen wir etwa, um unsern Körper gesund zu erhalten? Hören wir eine lustige Musik, um unsere Herzen zu bekehren? Das Vergnügen ist an sich gut. Es kann der größte Lobspruch für eine Oper sein, die ihre Welt für sich hat, daß sie gegen die unsere ganz unnatürlich aussieht. Auch die Karrikatur hat ihre Vorzüge: Menschen, die sich in einer gewissen Entfernung von der Wahrheit befinden, müssen durch Vergrößerung der Gestalten zu einem deutlichen Gesichtspunkte gelangen. Selbst im Leben des Weisen hat eine muthwillige, vom Verstandesballast befreite Ausgelassenheit ihre Rechte. „Strenge Sittenlehrer mögen immer die Kastraten vom Fegefeuer befreien und die schönen Sängerinnen dort ihre Verlornen Stunden nachholen lassen: ich werde das Glück der Ersteren nicht beneiden, und hoffentlich mit meiner ArZeit für das allgemeine Vergnügen die Strafe der Letzteren nicht verdienen." Der Verfasser dieser kleinen Schrift, Justizamtmann Justus Möser in Osnabrück, damals 40 jährig, ging in der Vertheidigung grotesker Typen noch weiter: halb im Ernst, halb im Scherz verlangte er die Wiederherstellung des Geckenordens. „Man rühmt es zwar unsern großen Vorfahren nach, daß sie zum Zeitvertreib viel auf brüderliches Trinken gehalten, und darin die ganze Wollust politischer Verschwörungen genossen hätten; auch redet man nie von ihren Töchtern, ohne sich Prinzessinnen vorzustellen, die in treuer Liebe in hohem Stil ihre Feierabende zugebracht hätten. Allein man mag ihnen ihr Trinken, ihre Verschwörungen und ihre Abenteuer noch so hoch anrechnen, so bleibt es doch ein Räthsel, wie sie ohne Kartenspiel, ohne Romanlektüre und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/33>, abgerufen am 25.11.2024.