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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Emmendingen "mit dem räthselhaften Gefühl im Herzen, woran die Leidenschaft
sich fortuührt". Auf dem Züricher See entstand am 15. Juni das köstliche
Lied: "Und frische Nahrung, neues Blut", in dessen mittlerer Strophe plötzlich
wieder die Erinnerung an Lili auftaucht und die Freude an der Herrlichkeit
der Natur unterbricht:


Aug', mein Aug', was sinkst du nieder?
Goldne Träume, kommt ihr wieder?
Weg, du Traum, so gold du bist!
Hier auch Lieb' und Leben ist.

Und als er nach fröhlicher Wasserfahrt noch einmal den See von den dahinter-
liegenden Bergen herab überblickte, schrieb er in sein "Gedenkheftchen" die Verse:


Wenn ich, liebe Lili, dich nicht liebte.
Welche Wonne gab' mir dieser Blick!
Und doch, wenn ich, Lili, dich-nicht liebte,
Wär', was wär' mein Glück?

Am Nachmittage desselben Tages kam er nach Kloster Einsiedeln. Dort be¬
trachtete er die alterthümlichen Kostbarkeiten der Klosterkirche. In einem
Schranke fesselte seine Blicke nnter verschiedenen goldenen Kronen anch eine
Zackenkrone, "wie man wohl ähnliche auf den Häuptern alterthümlicher
Königinnen gesehen". "Ich erbat mir die Erlaubniß, das Krönchen hervorzu-
uehmen, und als ich solches in der Hand anständig haltend in die Höhe hob,
dacht' ich mir nicht anders, als ich müßte es Lili auf die hellglänzenden
Locken aufdrücken, sie vor den Spiegel führen und ihre Freude über sich selbst
und das Glück, das sie verbreitet, gewahr werden."

Und nun, eine Woche später, als er auf dem Se. Gotthard stand, da war
der 23. Juni -- Lili's Geburtstag! Was mögen da für Empfindungen seine
Brust durchwogt haben! Der Vater hatte ihm bei der Abreise empfohlen,
"einen Uebergang nach Italien, wie es sich fügen und schicken wollte, nicht zu
versäumen"! Aber alle Herrlichkeit des Südens, auf die er herabschaute, ver¬
blich vor dem Glänze des Augenpaares, das nach der Heimat ihn zurückzog.
"Die Lombardie und Italien lag als ein Fremdes vor mir: Deutschland als
ein Bekanntes, Liebwerthes, voller freundlichen einheimischen Aussichten, und
sei es nur gestanden: das, was mich so lange ganz umfangen, meine Existenz
getragen hatte, blieb auch jetzt das unentbehrlichste Element, aus dessen Grenzen
zu treten ich mich nicht getraute. Ein goldenes Herzchen, das ich in schönsten
Stunden von ihr erhalten hatte, hing noch an demselben Bändchen, an welchem
sie es umknüpfte, lieberwürmt an meinem Halse. Ich faßte es an und küßte
es." Auch dieser Augenblick ist in einem Gedichte festgehalten. Es sind die
schönen Strophen: "Angedenken du verklungner Freude." Goethe selber setzt


Grenzboten III. 1879. 42

Emmendingen „mit dem räthselhaften Gefühl im Herzen, woran die Leidenschaft
sich fortuührt". Auf dem Züricher See entstand am 15. Juni das köstliche
Lied: „Und frische Nahrung, neues Blut", in dessen mittlerer Strophe plötzlich
wieder die Erinnerung an Lili auftaucht und die Freude an der Herrlichkeit
der Natur unterbricht:


Aug', mein Aug', was sinkst du nieder?
Goldne Träume, kommt ihr wieder?
Weg, du Traum, so gold du bist!
Hier auch Lieb' und Leben ist.

Und als er nach fröhlicher Wasserfahrt noch einmal den See von den dahinter-
liegenden Bergen herab überblickte, schrieb er in sein „Gedenkheftchen" die Verse:


Wenn ich, liebe Lili, dich nicht liebte.
Welche Wonne gab' mir dieser Blick!
Und doch, wenn ich, Lili, dich-nicht liebte,
Wär', was wär' mein Glück?

Am Nachmittage desselben Tages kam er nach Kloster Einsiedeln. Dort be¬
trachtete er die alterthümlichen Kostbarkeiten der Klosterkirche. In einem
Schranke fesselte seine Blicke nnter verschiedenen goldenen Kronen anch eine
Zackenkrone, „wie man wohl ähnliche auf den Häuptern alterthümlicher
Königinnen gesehen". „Ich erbat mir die Erlaubniß, das Krönchen hervorzu-
uehmen, und als ich solches in der Hand anständig haltend in die Höhe hob,
dacht' ich mir nicht anders, als ich müßte es Lili auf die hellglänzenden
Locken aufdrücken, sie vor den Spiegel führen und ihre Freude über sich selbst
und das Glück, das sie verbreitet, gewahr werden."

Und nun, eine Woche später, als er auf dem Se. Gotthard stand, da war
der 23. Juni — Lili's Geburtstag! Was mögen da für Empfindungen seine
Brust durchwogt haben! Der Vater hatte ihm bei der Abreise empfohlen,
„einen Uebergang nach Italien, wie es sich fügen und schicken wollte, nicht zu
versäumen"! Aber alle Herrlichkeit des Südens, auf die er herabschaute, ver¬
blich vor dem Glänze des Augenpaares, das nach der Heimat ihn zurückzog.
„Die Lombardie und Italien lag als ein Fremdes vor mir: Deutschland als
ein Bekanntes, Liebwerthes, voller freundlichen einheimischen Aussichten, und
sei es nur gestanden: das, was mich so lange ganz umfangen, meine Existenz
getragen hatte, blieb auch jetzt das unentbehrlichste Element, aus dessen Grenzen
zu treten ich mich nicht getraute. Ein goldenes Herzchen, das ich in schönsten
Stunden von ihr erhalten hatte, hing noch an demselben Bändchen, an welchem
sie es umknüpfte, lieberwürmt an meinem Halse. Ich faßte es an und küßte
es." Auch dieser Augenblick ist in einem Gedichte festgehalten. Es sind die
schönen Strophen: „Angedenken du verklungner Freude." Goethe selber setzt


Grenzboten III. 1879. 42
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[0327] Emmendingen „mit dem räthselhaften Gefühl im Herzen, woran die Leidenschaft sich fortuührt". Auf dem Züricher See entstand am 15. Juni das köstliche Lied: „Und frische Nahrung, neues Blut", in dessen mittlerer Strophe plötzlich wieder die Erinnerung an Lili auftaucht und die Freude an der Herrlichkeit der Natur unterbricht: Aug', mein Aug', was sinkst du nieder? Goldne Träume, kommt ihr wieder? Weg, du Traum, so gold du bist! Hier auch Lieb' und Leben ist. Und als er nach fröhlicher Wasserfahrt noch einmal den See von den dahinter- liegenden Bergen herab überblickte, schrieb er in sein „Gedenkheftchen" die Verse: Wenn ich, liebe Lili, dich nicht liebte. Welche Wonne gab' mir dieser Blick! Und doch, wenn ich, Lili, dich-nicht liebte, Wär', was wär' mein Glück? Am Nachmittage desselben Tages kam er nach Kloster Einsiedeln. Dort be¬ trachtete er die alterthümlichen Kostbarkeiten der Klosterkirche. In einem Schranke fesselte seine Blicke nnter verschiedenen goldenen Kronen anch eine Zackenkrone, „wie man wohl ähnliche auf den Häuptern alterthümlicher Königinnen gesehen". „Ich erbat mir die Erlaubniß, das Krönchen hervorzu- uehmen, und als ich solches in der Hand anständig haltend in die Höhe hob, dacht' ich mir nicht anders, als ich müßte es Lili auf die hellglänzenden Locken aufdrücken, sie vor den Spiegel führen und ihre Freude über sich selbst und das Glück, das sie verbreitet, gewahr werden." Und nun, eine Woche später, als er auf dem Se. Gotthard stand, da war der 23. Juni — Lili's Geburtstag! Was mögen da für Empfindungen seine Brust durchwogt haben! Der Vater hatte ihm bei der Abreise empfohlen, „einen Uebergang nach Italien, wie es sich fügen und schicken wollte, nicht zu versäumen"! Aber alle Herrlichkeit des Südens, auf die er herabschaute, ver¬ blich vor dem Glänze des Augenpaares, das nach der Heimat ihn zurückzog. „Die Lombardie und Italien lag als ein Fremdes vor mir: Deutschland als ein Bekanntes, Liebwerthes, voller freundlichen einheimischen Aussichten, und sei es nur gestanden: das, was mich so lange ganz umfangen, meine Existenz getragen hatte, blieb auch jetzt das unentbehrlichste Element, aus dessen Grenzen zu treten ich mich nicht getraute. Ein goldenes Herzchen, das ich in schönsten Stunden von ihr erhalten hatte, hing noch an demselben Bändchen, an welchem sie es umknüpfte, lieberwürmt an meinem Halse. Ich faßte es an und küßte es." Auch dieser Augenblick ist in einem Gedichte festgehalten. Es sind die schönen Strophen: „Angedenken du verklungner Freude." Goethe selber setzt Grenzboten III. 1879. 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/327>, abgerufen am 27.11.2024.