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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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möglich, wenn sich Gelegenheit fand, die Liebenden ungezwungen eine Zeit
lang von einander zu entfernen. Dann mußte sich's ja zeigen, ob sie einander
würden entbehren können. Und diese Gelegenheit bot sich sehr bald.

In der zweiten Maiwoche 1775 kamen die beiden Brüder Stolberg nach
Frankfurt und forderten Goethe auf, sie auf eiuer Reise in die Schweiz zu
begleiten. Schnell entschloß er sich zur Theilnahme und trennte sich von Lili
"mit einiger Andeutung, aber ohne Abschied". Von vielem Abschiednehmen war
er nie ein Freund, er liebte es, wie seine Mutter, sich dergleichen Aufregungen
zu ersparen. Am 13. Mai schreibt er an Sophie La Roche: "Endlich hab'
ich's übers Herz bracht und ziehe von Frankfurt"; Tags darauf wurde die
Reise angetreten.

Die Abwesenheit Goethe's dauerte zehn Wochen, vom 14. Mai bis zum
25. Juli. Die Reisenden gingen über Darmstadt, Mannheim und Karlsruhe nach
Straßburg. Dort trennten sie sich am 27. Mai, und Goethe machte einen
Abstecher, um seiue Schwester zu besuchen, die seit dem 1. November 1773 an
den Oberamtmann Schlosser in Emmendingen verheirathet war. Ueber Frei¬
burg und Schaffhausen ging er dann nach Zürich, wo er vom 8. bis 15. Juni
blieb und wieder auf einige Tage mit den Stolbergen zusammentraf. Hierauf
trennten sie sich abermals; die Stolberge machten von Zürich aus für sich
allein ihre Ausflüge, während Goethe mit seinem Freunde Passavant aus Frank¬
furt, den er zu seiner Freude unerwartet in Zürich getroffen, über den Zürichersee,
Einsiedeln, den Rigi, den Vierwaldstättersee, das Rutil und Altorf nach dem
Se. Gotthard ging, wo er am 22. Juni anlangte und am 23. verweilte. Die
Rückreise führte ihn im Laufe des Juli wahrscheinlich über Ulm und Stuttgart
uach Straßburg, am 25. Juli war er wieder im Hause der Eltern.

Eine Fülle der buntesten und zerstreuendsten Eindrücke, die Kunst und
Natur ihm boten, war unterwegs an seiner Seele vorübergezogen, mit einer
großen Anzahl bedeutender Menschen war er in Berührung gekommen. In
Darmstadt war er mit Merck zusammengewesen; in Karlsruhe hatte er zwar
Klopstock nicht mehr angetroffen -- sein Gedächtniß tänscht ihn, wenn er
das erzählt --, aber er hatte zum ersten Male dem jungen Herzog von Weimar
und dessen Braut gegenübergestanden, die ihn schon damals einluden, nach
Weimar zu kommen; in Straßburg hatte er Lenz und Salzmann wiedergesehen,
in Zürich mit Lavater und Bodmer verkehrt; auf der Rückkehr traf er in Zürich
mit Klinger, zuletzt in Darmstadt noch mit Herder zusammen. Aber alles das
hatte die Erinnerung an die Geliebte nicht aus seiner Seele verscheuchen können,
der Versuch, ob er Lili werde entbehren können, war als völlig gescheitert zu
betrachten, ihre liebe Gestalt hatte ihn überall umschwebt.

Hätte es denn aber auch anders sein können? Einen Versuch sollte er


möglich, wenn sich Gelegenheit fand, die Liebenden ungezwungen eine Zeit
lang von einander zu entfernen. Dann mußte sich's ja zeigen, ob sie einander
würden entbehren können. Und diese Gelegenheit bot sich sehr bald.

In der zweiten Maiwoche 1775 kamen die beiden Brüder Stolberg nach
Frankfurt und forderten Goethe auf, sie auf eiuer Reise in die Schweiz zu
begleiten. Schnell entschloß er sich zur Theilnahme und trennte sich von Lili
„mit einiger Andeutung, aber ohne Abschied". Von vielem Abschiednehmen war
er nie ein Freund, er liebte es, wie seine Mutter, sich dergleichen Aufregungen
zu ersparen. Am 13. Mai schreibt er an Sophie La Roche: „Endlich hab'
ich's übers Herz bracht und ziehe von Frankfurt"; Tags darauf wurde die
Reise angetreten.

Die Abwesenheit Goethe's dauerte zehn Wochen, vom 14. Mai bis zum
25. Juli. Die Reisenden gingen über Darmstadt, Mannheim und Karlsruhe nach
Straßburg. Dort trennten sie sich am 27. Mai, und Goethe machte einen
Abstecher, um seiue Schwester zu besuchen, die seit dem 1. November 1773 an
den Oberamtmann Schlosser in Emmendingen verheirathet war. Ueber Frei¬
burg und Schaffhausen ging er dann nach Zürich, wo er vom 8. bis 15. Juni
blieb und wieder auf einige Tage mit den Stolbergen zusammentraf. Hierauf
trennten sie sich abermals; die Stolberge machten von Zürich aus für sich
allein ihre Ausflüge, während Goethe mit seinem Freunde Passavant aus Frank¬
furt, den er zu seiner Freude unerwartet in Zürich getroffen, über den Zürichersee,
Einsiedeln, den Rigi, den Vierwaldstättersee, das Rutil und Altorf nach dem
Se. Gotthard ging, wo er am 22. Juni anlangte und am 23. verweilte. Die
Rückreise führte ihn im Laufe des Juli wahrscheinlich über Ulm und Stuttgart
uach Straßburg, am 25. Juli war er wieder im Hause der Eltern.

Eine Fülle der buntesten und zerstreuendsten Eindrücke, die Kunst und
Natur ihm boten, war unterwegs an seiner Seele vorübergezogen, mit einer
großen Anzahl bedeutender Menschen war er in Berührung gekommen. In
Darmstadt war er mit Merck zusammengewesen; in Karlsruhe hatte er zwar
Klopstock nicht mehr angetroffen — sein Gedächtniß tänscht ihn, wenn er
das erzählt —, aber er hatte zum ersten Male dem jungen Herzog von Weimar
und dessen Braut gegenübergestanden, die ihn schon damals einluden, nach
Weimar zu kommen; in Straßburg hatte er Lenz und Salzmann wiedergesehen,
in Zürich mit Lavater und Bodmer verkehrt; auf der Rückkehr traf er in Zürich
mit Klinger, zuletzt in Darmstadt noch mit Herder zusammen. Aber alles das
hatte die Erinnerung an die Geliebte nicht aus seiner Seele verscheuchen können,
der Versuch, ob er Lili werde entbehren können, war als völlig gescheitert zu
betrachten, ihre liebe Gestalt hatte ihn überall umschwebt.

Hätte es denn aber auch anders sein können? Einen Versuch sollte er


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[0325] möglich, wenn sich Gelegenheit fand, die Liebenden ungezwungen eine Zeit lang von einander zu entfernen. Dann mußte sich's ja zeigen, ob sie einander würden entbehren können. Und diese Gelegenheit bot sich sehr bald. In der zweiten Maiwoche 1775 kamen die beiden Brüder Stolberg nach Frankfurt und forderten Goethe auf, sie auf eiuer Reise in die Schweiz zu begleiten. Schnell entschloß er sich zur Theilnahme und trennte sich von Lili „mit einiger Andeutung, aber ohne Abschied". Von vielem Abschiednehmen war er nie ein Freund, er liebte es, wie seine Mutter, sich dergleichen Aufregungen zu ersparen. Am 13. Mai schreibt er an Sophie La Roche: „Endlich hab' ich's übers Herz bracht und ziehe von Frankfurt"; Tags darauf wurde die Reise angetreten. Die Abwesenheit Goethe's dauerte zehn Wochen, vom 14. Mai bis zum 25. Juli. Die Reisenden gingen über Darmstadt, Mannheim und Karlsruhe nach Straßburg. Dort trennten sie sich am 27. Mai, und Goethe machte einen Abstecher, um seiue Schwester zu besuchen, die seit dem 1. November 1773 an den Oberamtmann Schlosser in Emmendingen verheirathet war. Ueber Frei¬ burg und Schaffhausen ging er dann nach Zürich, wo er vom 8. bis 15. Juni blieb und wieder auf einige Tage mit den Stolbergen zusammentraf. Hierauf trennten sie sich abermals; die Stolberge machten von Zürich aus für sich allein ihre Ausflüge, während Goethe mit seinem Freunde Passavant aus Frank¬ furt, den er zu seiner Freude unerwartet in Zürich getroffen, über den Zürichersee, Einsiedeln, den Rigi, den Vierwaldstättersee, das Rutil und Altorf nach dem Se. Gotthard ging, wo er am 22. Juni anlangte und am 23. verweilte. Die Rückreise führte ihn im Laufe des Juli wahrscheinlich über Ulm und Stuttgart uach Straßburg, am 25. Juli war er wieder im Hause der Eltern. Eine Fülle der buntesten und zerstreuendsten Eindrücke, die Kunst und Natur ihm boten, war unterwegs an seiner Seele vorübergezogen, mit einer großen Anzahl bedeutender Menschen war er in Berührung gekommen. In Darmstadt war er mit Merck zusammengewesen; in Karlsruhe hatte er zwar Klopstock nicht mehr angetroffen — sein Gedächtniß tänscht ihn, wenn er das erzählt —, aber er hatte zum ersten Male dem jungen Herzog von Weimar und dessen Braut gegenübergestanden, die ihn schon damals einluden, nach Weimar zu kommen; in Straßburg hatte er Lenz und Salzmann wiedergesehen, in Zürich mit Lavater und Bodmer verkehrt; auf der Rückkehr traf er in Zürich mit Klinger, zuletzt in Darmstadt noch mit Herder zusammen. Aber alles das hatte die Erinnerung an die Geliebte nicht aus seiner Seele verscheuchen können, der Versuch, ob er Lili werde entbehren können, war als völlig gescheitert zu betrachten, ihre liebe Gestalt hatte ihn überall umschwebt. Hätte es denn aber auch anders sein können? Einen Versuch sollte er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/325>, abgerufen am 27.11.2024.