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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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ihrem pathetisch gebieterischen Wesen. Ich stand gegen Lili über und reichte meine
Hand dar; sie legte die ihre, zwar nicht zaudernd, aber doch langsam hinein. Nach
einem tiefen Athemholen fielen wir einander lebhaft bewegt in die Arme." "Es
war ein seltsamer Beschluß des hohen über uns Wallenden" -- fügt Goethe
hinzu -- "daß ich in dem Verlaufe meines wundersamen Lebensganges doch
auch erfahren sollte, wie es einem Bräutigam zu Muthe sei."

Unmöglich konnte diese wunderliche Szene für eine förmliche Verlobung
gelten. Goethe erzählt zwar: "Die durch Demoiselle Delf eroberte Zustimmung
beiderseitiger Eltern ward nunmehr als obwaltend anerkannt, stillschweigend und
ohne weitere Förmlichkeit." Aber gerade der höchst private, unoffizielle Charakter
des Vorganges konnte über seine Bedeutung nicht täuschen. Nach der Sitte
jener Zeit pflegte eine feierliche Verlobung im Familienkreise der Hochzeit wenige
Wochen vorherzugehen. So lange eine solche nicht stattgefunden hatte, konnte sich
das junge Paar wohl als für einander "deklarirt" betrachten, die "Förmlichkeit"
aber konnte schlechterdings nicht umgangen werden. Zu irgend einem Schritte
aber, der dem Verhältniß hätte einen offiziellen Anstrich geben können, scheint
vor allein Lili's Mutter vorläufig keine Neigung gehabt zu haben. Dies zeigte
sich sofort, als ihr Bruder, Onkel d'Orville in Offenbach, der augenscheinlich
Goethe ius Herz geschlossen hatte und sein Verhältniß begünstigte, den Versuch
wachte, eine kleine offizielle Feier in Szene zu setzen.

In Offenbach, am linken Mainufer, zwei Stunden von Frankfurt strom¬
aufwärts gelegen, das damals auf der Grenze zwischen Dorf und Stadt stand,
hatten sich ebenfalls französisch-reformirte Kaufleute niedergelassen, Fabrikgebäude
und Villen erbaut, und vornehme Frankfurter Familien brachten vielfach die
Sommermonate dort zu. Hier wohnte der schon bejahrte "Onkel Bernard", der
eine Schwester von Lili's Mutter zur Frau hatte, im eignen Hause, an welches
große Fabrikgebäude sich anschlössen, ferner der jüngere Onkel d'Orville, der Bru¬
der von Frau Schönemann, in einem Gartenhause mit herrlichem Blick auf die
nach dem Flußufer terrassenförmig sich hinabziehenden Gurten, endlich auch
Johann Andre, der bekannte dilettirende Komponist, damals noch Kaufmann,
später Musikalienhändler, der acht Jahre älter war als Goethe. Bei Andre kehrte
Goethe ein, wenn er nach Offenbach ging; schon in der ersten Hälfte des März
brachte er einige Tage bei ihm zu, als Andre mit der Komposition von "Erwin und
Elmire" beschäftigt war. Lili wohnte, wenn sie hinauskam, regelmäßig bei Onkel
d'Orville. In dieser veränderten Szenerie und zum Theil auch veränderten
Staffage spinnt sich Goethe's Verhältniß zu Lili mit dem Eintritt des Früh¬
lings weiter. Goethe verkehrte frei und ungehindert in d'Orville's Hause. Auch
dort wurde viel musizirt, Andre ging aus und ein, und so war der Verkehr
Zwischen den Liebenden leicht herzustellen.


ihrem pathetisch gebieterischen Wesen. Ich stand gegen Lili über und reichte meine
Hand dar; sie legte die ihre, zwar nicht zaudernd, aber doch langsam hinein. Nach
einem tiefen Athemholen fielen wir einander lebhaft bewegt in die Arme." „Es
war ein seltsamer Beschluß des hohen über uns Wallenden" — fügt Goethe
hinzu — „daß ich in dem Verlaufe meines wundersamen Lebensganges doch
auch erfahren sollte, wie es einem Bräutigam zu Muthe sei."

Unmöglich konnte diese wunderliche Szene für eine förmliche Verlobung
gelten. Goethe erzählt zwar: „Die durch Demoiselle Delf eroberte Zustimmung
beiderseitiger Eltern ward nunmehr als obwaltend anerkannt, stillschweigend und
ohne weitere Förmlichkeit." Aber gerade der höchst private, unoffizielle Charakter
des Vorganges konnte über seine Bedeutung nicht täuschen. Nach der Sitte
jener Zeit pflegte eine feierliche Verlobung im Familienkreise der Hochzeit wenige
Wochen vorherzugehen. So lange eine solche nicht stattgefunden hatte, konnte sich
das junge Paar wohl als für einander „deklarirt" betrachten, die „Förmlichkeit"
aber konnte schlechterdings nicht umgangen werden. Zu irgend einem Schritte
aber, der dem Verhältniß hätte einen offiziellen Anstrich geben können, scheint
vor allein Lili's Mutter vorläufig keine Neigung gehabt zu haben. Dies zeigte
sich sofort, als ihr Bruder, Onkel d'Orville in Offenbach, der augenscheinlich
Goethe ius Herz geschlossen hatte und sein Verhältniß begünstigte, den Versuch
wachte, eine kleine offizielle Feier in Szene zu setzen.

In Offenbach, am linken Mainufer, zwei Stunden von Frankfurt strom¬
aufwärts gelegen, das damals auf der Grenze zwischen Dorf und Stadt stand,
hatten sich ebenfalls französisch-reformirte Kaufleute niedergelassen, Fabrikgebäude
und Villen erbaut, und vornehme Frankfurter Familien brachten vielfach die
Sommermonate dort zu. Hier wohnte der schon bejahrte „Onkel Bernard", der
eine Schwester von Lili's Mutter zur Frau hatte, im eignen Hause, an welches
große Fabrikgebäude sich anschlössen, ferner der jüngere Onkel d'Orville, der Bru¬
der von Frau Schönemann, in einem Gartenhause mit herrlichem Blick auf die
nach dem Flußufer terrassenförmig sich hinabziehenden Gurten, endlich auch
Johann Andre, der bekannte dilettirende Komponist, damals noch Kaufmann,
später Musikalienhändler, der acht Jahre älter war als Goethe. Bei Andre kehrte
Goethe ein, wenn er nach Offenbach ging; schon in der ersten Hälfte des März
brachte er einige Tage bei ihm zu, als Andre mit der Komposition von „Erwin und
Elmire" beschäftigt war. Lili wohnte, wenn sie hinauskam, regelmäßig bei Onkel
d'Orville. In dieser veränderten Szenerie und zum Theil auch veränderten
Staffage spinnt sich Goethe's Verhältniß zu Lili mit dem Eintritt des Früh¬
lings weiter. Goethe verkehrte frei und ungehindert in d'Orville's Hause. Auch
dort wurde viel musizirt, Andre ging aus und ein, und so war der Verkehr
Zwischen den Liebenden leicht herzustellen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/321>, abgerufen am 27.11.2024.