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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Züge an die Hand geben werden. Endlich aber darf Löper's reichhaltiger
Kommentar zu "Dichtung und Wahrheit" nicht ungenannt bleiben, aus welchem
sich ja -- mit einiger Geduld -- fast alles, was zur Kontrole des Textes dienen
kann, zusammenfinden läßt.

Im Folgenden versuchen wir, mit Hilfe des ganzen jetzt vorhandenen
Materials den Verlauf der Begebenheiten noch einmal kurz zu skizziren. Etwas
Neues dabei zu bieten, beanspruchen wir nicht, nicht einmal etwas Neues in
der Auffassung. Unsre Absicht ist nur, das Material bequem und übersichtlich
vorzulegen, damit der Leser sich selbst das Urtheil bilden könne.

Elise Schönemann war etwas über 16 Jahre alt, als Goethe, damals
25jährig, sie kennen lernte. Sie war geboren am 23. Juni 1758 und war die
einzige Tochter aus einer der angesehensten Bcmkierfamilicn Frankfurt's. Der
Vater war schon 1763 gestorben, und seitdem führte die Mutter, eine geborne
d'Orville, gemeinschaftlich mit einem Theilhaber das Bankgeschäft und leitete die
Erziehung Elise's und ihrer vier von sechs am Leben gebliebenen Brüder.
Die Familie war reformirt und stand durch die Mutter mit den zahlreichen
vornehmen Refugie's in Frankfurt, den Goulard, Passavant, Jeanrenaud u. a.,
in Verbindung. Das Schönemann'sche Haus, "zum Liebeneck", lag am großen
Kornmärkte neben der reformirten Kirche; es war nach des Vaters Tode 1770
von der Mutter für nahe an 80 000 Gulden angekauft und kostbar eingerichtet
worden.

In glänzenden Verhältnissen wuchs Lili heran. Durch ausgedehnte Ge-
schäftsbeziehnngen war das Haus Schönemann zu beständiger Repräsentation
genöthigt und wurde stets mit einem gewissen Luxus geführt. Trotz dieses
äußeren Glanzes wurden aber die Kinder einfach erzogen und zur Thätigkeit
angehalten. Lili hatte glückliche Anlagen; sie zeichnete hübsch und mit Kunst¬
sinn, ihre Fertigkeit im Klavierspiel wurde gerühmt, und ihre anmuthige Stimme
bezauberte jeden Hörer; doch auch zur Sorge für das Hauswesen wurde sie
früh von der Mutter angeleitet. Ihre äußere Erscheinung muß höchst reizvoll
gewesen fein. Auf zierlich gestalteten Schultern schwebte ein anmuthiger Kopf
vom schönsten Oval, mit fein geregelten Zügen; blondes Haar, große dunkel¬
blaue Augen mit dem Ausdruck reinster Herzensgüte, ein reizend lächelnder
Mund; dazu das Geschick, mit einfachen Mitteln, mit einer Blume, mit einem
graziös gewundenen Bande sich zierlich zu schmücken -- so schildert sie Graf
Dürckheim, und seine Schilderung wird bestätigt durch das Porträt, welches
er "nach dem besten Familienbilde" in Lichtdruck hat herstellen lassen und seinein
Buche als Titelbild beigegeben hat.

An einem Dezemberabend 1774 war es, wo Goethe zum ersten Male in
das Schönemann'sche Haus eingeführt wurde. Es gab eine große Gesellschaft im


Züge an die Hand geben werden. Endlich aber darf Löper's reichhaltiger
Kommentar zu „Dichtung und Wahrheit" nicht ungenannt bleiben, aus welchem
sich ja — mit einiger Geduld — fast alles, was zur Kontrole des Textes dienen
kann, zusammenfinden läßt.

Im Folgenden versuchen wir, mit Hilfe des ganzen jetzt vorhandenen
Materials den Verlauf der Begebenheiten noch einmal kurz zu skizziren. Etwas
Neues dabei zu bieten, beanspruchen wir nicht, nicht einmal etwas Neues in
der Auffassung. Unsre Absicht ist nur, das Material bequem und übersichtlich
vorzulegen, damit der Leser sich selbst das Urtheil bilden könne.

Elise Schönemann war etwas über 16 Jahre alt, als Goethe, damals
25jährig, sie kennen lernte. Sie war geboren am 23. Juni 1758 und war die
einzige Tochter aus einer der angesehensten Bcmkierfamilicn Frankfurt's. Der
Vater war schon 1763 gestorben, und seitdem führte die Mutter, eine geborne
d'Orville, gemeinschaftlich mit einem Theilhaber das Bankgeschäft und leitete die
Erziehung Elise's und ihrer vier von sechs am Leben gebliebenen Brüder.
Die Familie war reformirt und stand durch die Mutter mit den zahlreichen
vornehmen Refugie's in Frankfurt, den Goulard, Passavant, Jeanrenaud u. a.,
in Verbindung. Das Schönemann'sche Haus, „zum Liebeneck", lag am großen
Kornmärkte neben der reformirten Kirche; es war nach des Vaters Tode 1770
von der Mutter für nahe an 80 000 Gulden angekauft und kostbar eingerichtet
worden.

In glänzenden Verhältnissen wuchs Lili heran. Durch ausgedehnte Ge-
schäftsbeziehnngen war das Haus Schönemann zu beständiger Repräsentation
genöthigt und wurde stets mit einem gewissen Luxus geführt. Trotz dieses
äußeren Glanzes wurden aber die Kinder einfach erzogen und zur Thätigkeit
angehalten. Lili hatte glückliche Anlagen; sie zeichnete hübsch und mit Kunst¬
sinn, ihre Fertigkeit im Klavierspiel wurde gerühmt, und ihre anmuthige Stimme
bezauberte jeden Hörer; doch auch zur Sorge für das Hauswesen wurde sie
früh von der Mutter angeleitet. Ihre äußere Erscheinung muß höchst reizvoll
gewesen fein. Auf zierlich gestalteten Schultern schwebte ein anmuthiger Kopf
vom schönsten Oval, mit fein geregelten Zügen; blondes Haar, große dunkel¬
blaue Augen mit dem Ausdruck reinster Herzensgüte, ein reizend lächelnder
Mund; dazu das Geschick, mit einfachen Mitteln, mit einer Blume, mit einem
graziös gewundenen Bande sich zierlich zu schmücken — so schildert sie Graf
Dürckheim, und seine Schilderung wird bestätigt durch das Porträt, welches
er „nach dem besten Familienbilde" in Lichtdruck hat herstellen lassen und seinein
Buche als Titelbild beigegeben hat.

An einem Dezemberabend 1774 war es, wo Goethe zum ersten Male in
das Schönemann'sche Haus eingeführt wurde. Es gab eine große Gesellschaft im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/315>, abgerufen am 01.09.2024.