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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Lewes' (Gott sei's geklagt!) in Deutschland nun einmal verbreitete Goethe-Bio¬
graphie gäng und gäbe geworden ist, daß die totale Verkehrtheit des letzteren
noch viel deutlicher als bisher in die Augen springt.*) Aber auch auf Goethe's
eigne Darstellung fällt aus der Schilderung des Verfassers ein Wiederschein,
der stark genug ist, gewisse Schntteupartieen derselben in erfreulicher Weise auf¬
zuhellen. Und insofern bietet das Buch allerdings auch für Goethe's Leben
etwas Neues und auch dein intimsten Kenner der Goethe-Literatur mindestens
eine willkommene Bestätigung für Thatsachen, die jeder Besonnene wohl bisher
auch schon ahnen, aber doch nicht recht mit Händen greifen konnte.

Eckermann gegenüber soll Goethe über Lili geäußert haben: "Sie war in
der That die Erste, die ich tief und wahrhaft liebte. Auch kann ich sagen, daß
sie die Letzte gewesen; denn alle kleinen Neigungen, die mich in der Folge meines
Lebens berührten, waren mit jener ersten verglichen nur leicht und oberflächlich.
Meine Neigung zu Lili hatte etwas so Delicates und Eigenthümliches, daß es
jetzt in der Darstellung jener schmerzlich-süßen Epoche auf meinen Stil Ein¬
fluß gehabt hat. Wenn Sie künftig den vierten Band von Wahrheit und Dich-
tung lesen, so werden Sie finden, daß jene Liebe etwas ganz anderes ist, als
eine Liebe in Romanen/' Undenkbar ist es nicht, daß Goethe diese Aeußerung,
die, euro. ^raro salis genommen, selbst einer Stein gegenüber zu Rechte besteht,
wirklich gethan hat, obschon sie durch die Darstellung in "Dichtung und
Wahrheit" wenig bestätigt zu werden scheint. Die dort auf Lili bezüglichen
Partieen, welche auf Buch 16 -- 20 vertheilt und fortwährend durch andere Dinge
unterbrochen find, hat Goethe sehr spät, zu verschiedenen Zeiten, nicht in der
Reihenfolge und unter Bedenklichkeiten niedergeschrieben. Als er auf feiner Reise
in die Rheinlande 18l5 am 3. Oktober mit Sulpiz Boisseree von Heidelberg
nach Karlsruhe fuhr, kam ihm sein Verhältniß zu Lili in den Sinn, und er
sprach davon, daß er wegen dieser Jugendgeliebten -- die damals noch am
Leben war -- in Verlegenheit sei, seine Lebensbeschreibung fortzusetzen. Boisseree
suchte ihm das auszureden. Aber die Arbeit wurde trotzdem nicht gefördert:
bis 1831 hat Goethe über dem vierten Theil (Buch 16--20) zugebracht. Trotz¬
dem gilt auch von diesen Partieen über Lili, was von der "Sesenheimer Idylle"
und schließlich von "Dichtung und Wahrheit" überhaupt gilt: sie bilden eine
Erzählung von wunderbar überlegter künstlerischer Anordnung und Steigerung
und von höchster innerer, poetischer Wahrheit, und es ist das unerfreulichste Ge-



*) Daß das Buch des Engländers Lewes seit 1849 in Deutschland elf Auflagen erlebt
hat und noch immer gekauft wird, trotzdem daß es durch die Goethe-Forschung längst überholt
ist, während eine so tüchtige, gehaltvolle und besonnene Arbeit, wie Vichoff's Goethe-Bio¬
graphie, die sich stets auf der Höhe der Forschung gehalten hat, es in derselben Zeit zu vier
Auflagen gebracht hat, ist eine Schande für Dentschland. Aber es ist so echt deutsch!

Lewes' (Gott sei's geklagt!) in Deutschland nun einmal verbreitete Goethe-Bio¬
graphie gäng und gäbe geworden ist, daß die totale Verkehrtheit des letzteren
noch viel deutlicher als bisher in die Augen springt.*) Aber auch auf Goethe's
eigne Darstellung fällt aus der Schilderung des Verfassers ein Wiederschein,
der stark genug ist, gewisse Schntteupartieen derselben in erfreulicher Weise auf¬
zuhellen. Und insofern bietet das Buch allerdings auch für Goethe's Leben
etwas Neues und auch dein intimsten Kenner der Goethe-Literatur mindestens
eine willkommene Bestätigung für Thatsachen, die jeder Besonnene wohl bisher
auch schon ahnen, aber doch nicht recht mit Händen greifen konnte.

Eckermann gegenüber soll Goethe über Lili geäußert haben: „Sie war in
der That die Erste, die ich tief und wahrhaft liebte. Auch kann ich sagen, daß
sie die Letzte gewesen; denn alle kleinen Neigungen, die mich in der Folge meines
Lebens berührten, waren mit jener ersten verglichen nur leicht und oberflächlich.
Meine Neigung zu Lili hatte etwas so Delicates und Eigenthümliches, daß es
jetzt in der Darstellung jener schmerzlich-süßen Epoche auf meinen Stil Ein¬
fluß gehabt hat. Wenn Sie künftig den vierten Band von Wahrheit und Dich-
tung lesen, so werden Sie finden, daß jene Liebe etwas ganz anderes ist, als
eine Liebe in Romanen/' Undenkbar ist es nicht, daß Goethe diese Aeußerung,
die, euro. ^raro salis genommen, selbst einer Stein gegenüber zu Rechte besteht,
wirklich gethan hat, obschon sie durch die Darstellung in „Dichtung und
Wahrheit" wenig bestätigt zu werden scheint. Die dort auf Lili bezüglichen
Partieen, welche auf Buch 16 — 20 vertheilt und fortwährend durch andere Dinge
unterbrochen find, hat Goethe sehr spät, zu verschiedenen Zeiten, nicht in der
Reihenfolge und unter Bedenklichkeiten niedergeschrieben. Als er auf feiner Reise
in die Rheinlande 18l5 am 3. Oktober mit Sulpiz Boisseree von Heidelberg
nach Karlsruhe fuhr, kam ihm sein Verhältniß zu Lili in den Sinn, und er
sprach davon, daß er wegen dieser Jugendgeliebten — die damals noch am
Leben war — in Verlegenheit sei, seine Lebensbeschreibung fortzusetzen. Boisseree
suchte ihm das auszureden. Aber die Arbeit wurde trotzdem nicht gefördert:
bis 1831 hat Goethe über dem vierten Theil (Buch 16—20) zugebracht. Trotz¬
dem gilt auch von diesen Partieen über Lili, was von der „Sesenheimer Idylle"
und schließlich von „Dichtung und Wahrheit" überhaupt gilt: sie bilden eine
Erzählung von wunderbar überlegter künstlerischer Anordnung und Steigerung
und von höchster innerer, poetischer Wahrheit, und es ist das unerfreulichste Ge-



*) Daß das Buch des Engländers Lewes seit 1849 in Deutschland elf Auflagen erlebt
hat und noch immer gekauft wird, trotzdem daß es durch die Goethe-Forschung längst überholt
ist, während eine so tüchtige, gehaltvolle und besonnene Arbeit, wie Vichoff's Goethe-Bio¬
graphie, die sich stets auf der Höhe der Forschung gehalten hat, es in derselben Zeit zu vier
Auflagen gebracht hat, ist eine Schande für Dentschland. Aber es ist so echt deutsch!
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[0313] Lewes' (Gott sei's geklagt!) in Deutschland nun einmal verbreitete Goethe-Bio¬ graphie gäng und gäbe geworden ist, daß die totale Verkehrtheit des letzteren noch viel deutlicher als bisher in die Augen springt.*) Aber auch auf Goethe's eigne Darstellung fällt aus der Schilderung des Verfassers ein Wiederschein, der stark genug ist, gewisse Schntteupartieen derselben in erfreulicher Weise auf¬ zuhellen. Und insofern bietet das Buch allerdings auch für Goethe's Leben etwas Neues und auch dein intimsten Kenner der Goethe-Literatur mindestens eine willkommene Bestätigung für Thatsachen, die jeder Besonnene wohl bisher auch schon ahnen, aber doch nicht recht mit Händen greifen konnte. Eckermann gegenüber soll Goethe über Lili geäußert haben: „Sie war in der That die Erste, die ich tief und wahrhaft liebte. Auch kann ich sagen, daß sie die Letzte gewesen; denn alle kleinen Neigungen, die mich in der Folge meines Lebens berührten, waren mit jener ersten verglichen nur leicht und oberflächlich. Meine Neigung zu Lili hatte etwas so Delicates und Eigenthümliches, daß es jetzt in der Darstellung jener schmerzlich-süßen Epoche auf meinen Stil Ein¬ fluß gehabt hat. Wenn Sie künftig den vierten Band von Wahrheit und Dich- tung lesen, so werden Sie finden, daß jene Liebe etwas ganz anderes ist, als eine Liebe in Romanen/' Undenkbar ist es nicht, daß Goethe diese Aeußerung, die, euro. ^raro salis genommen, selbst einer Stein gegenüber zu Rechte besteht, wirklich gethan hat, obschon sie durch die Darstellung in „Dichtung und Wahrheit" wenig bestätigt zu werden scheint. Die dort auf Lili bezüglichen Partieen, welche auf Buch 16 — 20 vertheilt und fortwährend durch andere Dinge unterbrochen find, hat Goethe sehr spät, zu verschiedenen Zeiten, nicht in der Reihenfolge und unter Bedenklichkeiten niedergeschrieben. Als er auf feiner Reise in die Rheinlande 18l5 am 3. Oktober mit Sulpiz Boisseree von Heidelberg nach Karlsruhe fuhr, kam ihm sein Verhältniß zu Lili in den Sinn, und er sprach davon, daß er wegen dieser Jugendgeliebten — die damals noch am Leben war — in Verlegenheit sei, seine Lebensbeschreibung fortzusetzen. Boisseree suchte ihm das auszureden. Aber die Arbeit wurde trotzdem nicht gefördert: bis 1831 hat Goethe über dem vierten Theil (Buch 16—20) zugebracht. Trotz¬ dem gilt auch von diesen Partieen über Lili, was von der „Sesenheimer Idylle" und schließlich von „Dichtung und Wahrheit" überhaupt gilt: sie bilden eine Erzählung von wunderbar überlegter künstlerischer Anordnung und Steigerung und von höchster innerer, poetischer Wahrheit, und es ist das unerfreulichste Ge- *) Daß das Buch des Engländers Lewes seit 1849 in Deutschland elf Auflagen erlebt hat und noch immer gekauft wird, trotzdem daß es durch die Goethe-Forschung längst überholt ist, während eine so tüchtige, gehaltvolle und besonnene Arbeit, wie Vichoff's Goethe-Bio¬ graphie, die sich stets auf der Höhe der Forschung gehalten hat, es in derselben Zeit zu vier Auflagen gebracht hat, ist eine Schande für Dentschland. Aber es ist so echt deutsch!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/313>, abgerufen am 27.11.2024.