Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.gruppirt, aber seine Darstellung ist unbeholfen, bisweilen geradezu unlogisch und *) Von der Darstellung des Verfassers nur eine Probe. S. 29 heißt es: "Dieser
ruhige Freund erschien Lilli in Bernhard Friedrich von Türckheim ... Er war der Sohn eines wohlhabenden und angesehenen Banquiers . . . Seine beiden Söhne, Johann und Bernhard Friedrich, erzog er in denselben Gesinnungen -c." Hier wird also B. F- Türckheim zu seinem eignen Sohne gemachet gruppirt, aber seine Darstellung ist unbeholfen, bisweilen geradezu unlogisch und *) Von der Darstellung des Verfassers nur eine Probe. S. 29 heißt es: „Dieser
ruhige Freund erschien Lilli in Bernhard Friedrich von Türckheim ... Er war der Sohn eines wohlhabenden und angesehenen Banquiers . . . Seine beiden Söhne, Johann und Bernhard Friedrich, erzog er in denselben Gesinnungen -c." Hier wird also B. F- Türckheim zu seinem eignen Sohne gemachet <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0312" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142809"/> <p xml:id="ID_914" prev="#ID_913" next="#ID_915"> gruppirt, aber seine Darstellung ist unbeholfen, bisweilen geradezu unlogisch und<lb/> selbst grammatisch falsch; die reiche Literatur, die mit seinem Stoffe zusammen¬<lb/> hangt, kennt er nur sehr zum Theil; ungenaue Zitate und verkehrte Orthographie<lb/> machen ihm eben keinen Kummer; und endlich hat auch seine Durchsicht des<lb/> Druckes dem Korrekturstift des Lesers eine reichliche Nachlese gelassen.*) Der<lb/> zweite Vorwurf aber ist unbillig. Es ist ein ganz bescheidenes Buch, das der<lb/> Verfasser bietet, ein Buch, das ohne jede Prätention auftritt, und das nicht<lb/> im entferntesten von Familieneitelkeit eingegeben ist. Wenn doch die raschlebige<lb/> Gegenwart in unsern bürgerlichen Kreisen etwas mehr von jenem pietätvollen<lb/> Familienkultus übrig gelassen hätte, den man hier als „aristokratischen Tic"<lb/> belächelt hat; es würde vielleicht manches besser bei uns stehen. Noch unbegrün¬<lb/> deter endlich ist der Vorwurf, daß das Buch nichts Neues enthalte. Aus der<lb/> Zeit freilich, wo Goethe's Verhältniß zu Lili spielte, kann der Verfasser<lb/> keine neuen Dokumente beibringen, kein Briefchen, kein Gedichtchen, auch nicht<lb/> das geringste Papierschnitzel. Er theilt allerdings eine ziemlich ausführliche<lb/> Auslastung (in französischer Sprache) mit, die ihm in seiner Bräutigamszeit<lb/> (1832) die Tochter Lili's über den wahren Verlauf von Goethe's Verhältniß<lb/> zu ihrer Mutter gemacht haben soll, und diese Erzählung klingt im ganzen recht<lb/> verstündig und wahrscheinlich; frappirt wird man höchstens durch den einen<lb/> Zug, daß, nachdem Lili durch ihre Mutter nach und nach auf die nothwendige<lb/> Trennung von Goethe vorbereitet worden sei, man ihrer Standhaftigkeit endlich<lb/> den Gnadenstoß (1o eoux as Zrlloö) versetzt habe durch Enthüllungen über<lb/> Goethe's früheres Verhältniß zu Friederike Brion. Aber wir legen nicht blos auf<lb/> diesen Zug, sondern auf die ganze Erzählung, von der man ja nicht einmal<lb/> erfährt, ob sie nach jetziger Erinnerung oder nach damaliger Niederschrift hier<lb/> veröffentlicht wird, kein großes Gewicht; sie kann auf jeden Fall nur für eine<lb/> sehr abgeleitete Quelle gelten. Viel wichtiger ist es, daß der Herausgeber über<lb/> das spätere Leben Lili's, von ihrer Verheirathung an bis zu ihrem Tode, zum<lb/> ersten Male genauere Kunde gibt und seine Schilderung mit einer Auswahl<lb/> aus dem erhaltenen Briefwechsel Lili's aus den Jahren 1783—1815 begleitet.<lb/> Das Bild, das unzweifelhaft echte Bild, das wir aus dieser Schilderung und<lb/> diesen Dokumente» gewinnen, weicht so wesentlich ab nicht sowohl von dem,<lb/> welches Goethe in „Dichtung und Wahrheit" entworfen hat — denn wo entwirft<lb/> er denn überhaupt eins? — als vielmehr von dem, welches namentlich durch</p><lb/> <note xml:id="FID_31" place="foot"> *) Von der Darstellung des Verfassers nur eine Probe. S. 29 heißt es: „Dieser<lb/> ruhige Freund erschien Lilli in Bernhard Friedrich von Türckheim ... Er war der<lb/> Sohn eines wohlhabenden und angesehenen Banquiers . . . Seine beiden Söhne, Johann<lb/> und Bernhard Friedrich, erzog er in denselben Gesinnungen -c." Hier wird also B. F-<lb/> Türckheim zu seinem eignen Sohne gemachet</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0312]
gruppirt, aber seine Darstellung ist unbeholfen, bisweilen geradezu unlogisch und
selbst grammatisch falsch; die reiche Literatur, die mit seinem Stoffe zusammen¬
hangt, kennt er nur sehr zum Theil; ungenaue Zitate und verkehrte Orthographie
machen ihm eben keinen Kummer; und endlich hat auch seine Durchsicht des
Druckes dem Korrekturstift des Lesers eine reichliche Nachlese gelassen.*) Der
zweite Vorwurf aber ist unbillig. Es ist ein ganz bescheidenes Buch, das der
Verfasser bietet, ein Buch, das ohne jede Prätention auftritt, und das nicht
im entferntesten von Familieneitelkeit eingegeben ist. Wenn doch die raschlebige
Gegenwart in unsern bürgerlichen Kreisen etwas mehr von jenem pietätvollen
Familienkultus übrig gelassen hätte, den man hier als „aristokratischen Tic"
belächelt hat; es würde vielleicht manches besser bei uns stehen. Noch unbegrün¬
deter endlich ist der Vorwurf, daß das Buch nichts Neues enthalte. Aus der
Zeit freilich, wo Goethe's Verhältniß zu Lili spielte, kann der Verfasser
keine neuen Dokumente beibringen, kein Briefchen, kein Gedichtchen, auch nicht
das geringste Papierschnitzel. Er theilt allerdings eine ziemlich ausführliche
Auslastung (in französischer Sprache) mit, die ihm in seiner Bräutigamszeit
(1832) die Tochter Lili's über den wahren Verlauf von Goethe's Verhältniß
zu ihrer Mutter gemacht haben soll, und diese Erzählung klingt im ganzen recht
verstündig und wahrscheinlich; frappirt wird man höchstens durch den einen
Zug, daß, nachdem Lili durch ihre Mutter nach und nach auf die nothwendige
Trennung von Goethe vorbereitet worden sei, man ihrer Standhaftigkeit endlich
den Gnadenstoß (1o eoux as Zrlloö) versetzt habe durch Enthüllungen über
Goethe's früheres Verhältniß zu Friederike Brion. Aber wir legen nicht blos auf
diesen Zug, sondern auf die ganze Erzählung, von der man ja nicht einmal
erfährt, ob sie nach jetziger Erinnerung oder nach damaliger Niederschrift hier
veröffentlicht wird, kein großes Gewicht; sie kann auf jeden Fall nur für eine
sehr abgeleitete Quelle gelten. Viel wichtiger ist es, daß der Herausgeber über
das spätere Leben Lili's, von ihrer Verheirathung an bis zu ihrem Tode, zum
ersten Male genauere Kunde gibt und seine Schilderung mit einer Auswahl
aus dem erhaltenen Briefwechsel Lili's aus den Jahren 1783—1815 begleitet.
Das Bild, das unzweifelhaft echte Bild, das wir aus dieser Schilderung und
diesen Dokumente» gewinnen, weicht so wesentlich ab nicht sowohl von dem,
welches Goethe in „Dichtung und Wahrheit" entworfen hat — denn wo entwirft
er denn überhaupt eins? — als vielmehr von dem, welches namentlich durch
*) Von der Darstellung des Verfassers nur eine Probe. S. 29 heißt es: „Dieser
ruhige Freund erschien Lilli in Bernhard Friedrich von Türckheim ... Er war der
Sohn eines wohlhabenden und angesehenen Banquiers . . . Seine beiden Söhne, Johann
und Bernhard Friedrich, erzog er in denselben Gesinnungen -c." Hier wird also B. F-
Türckheim zu seinem eignen Sohne gemachet
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