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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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wahrhaft Frommen ziehen hier ein. Alexander versetzte: Ich bin ein großer
und angesehener König, gebt mir wenigstens etwas, damit ich sagen kann, ich
sei an der Pforte des Paradieses gewesen. Da reichte man ihm einen Schädel
heraus. Alexander nahm den Schädel und legte ihn auf eine Wagschale, und
alles Gold und Silber, was er bei sich hatte, legte er in die andre Wagschale,
allein es wog den Schädel nicht auf. Darüber erstaunt, wandte er sich an
die Rabbinen und befragte sie über die sonderbare Erscheinung. Sie sagten:
Das ist der Schädel eines menschlichen Wesens, dessen Auge unersättlich war.
Alexander fragte: Woher wißt ihr das? Du sollst dich sogleich davon über¬
zeugen. Sie nahmen ein wenig Staub und bestreuten damit den Schädel, und
die Wagschale sank sofort herunter, wie in den Sprüchen geschrieben steht
(27, 20): Die Holle und das Verderben sind nimmer satt, und die Augen des
Menschen sind unersättlich.

Diese Sage haben besonders arabische, persische und türkische Alexander¬
romane mit Vorliebe bearbeitet, nur daß nach ihnen Alexander nicht einen
Zug nach dem Paradiese, sondern nach dem Lebensquell im Lande der Finsterniß
unternimmt. Namentlich eingehend ist die Sage von Firdüs! in seinem sehn-H-
nZme und von seinem Nachfolger, dem romantischen Epiker Nizäin! (f um d.
I. 600 der Hedschra) im letzten Abschnitte seines Jskendernmne behandelt.
Letzterer führt die Sage in drei nebeneinander herlaufenden Traditionen, einer
persischen, einer griechischen und einer arabischen, aus, trägt aber ein Moment
der sufischen Spekulation, der morgenländischen Theosophie in sie hinein: Nach
der in den Hauptmomenten ziemlich übereinstimmenden Darstellung beider
Dichter kommt Alexander, nachdem er die seltsame Frauenstadt Harum im
Rücken hat, zu streitbaren Männern mit rothen Haaren und blassen Gesichtern,
an welche er die Frage richtet, ob sie ihn nicht auf etwas Wunderbares auf¬
merksam machen könnten. Ein Greis gibt ihm zur Antwort, auf der andern
Seite der Stadt befinde sich ein Bassin, auf welches die Sonne ihre glühenden
Strahlen niedersende, und in dessen tiefe Fluthen sie untergehe*); dicke Finster¬
niß lagere hinter ihm über der Welt, und alles sonst in ihr Sichtbare werde
dort unsichtbar; außerdem befinde sich daselbst der aus dem Paradiese kom¬
mende Quell des Lebenswassers, der jedem, welcher daraus trinke, Unsterblich¬
keit verleihe, und wer darin seinen Leib bade, sündenrein mache. Durch diese
Schilderung des Greises angespornt, macht sich Alexander mit einer kleinen
Schaar auserlesener Männer seines Heeres auf den Weg, um das Bassin auf¬
zusuchen. Chiser, eine bekannte mythische Gestalt der Orientalen, welche als



*) Vielleicht ist dabei an den nach der Vorstellung der Alten die Erde umkreisenden
Okeanos zu denken.

wahrhaft Frommen ziehen hier ein. Alexander versetzte: Ich bin ein großer
und angesehener König, gebt mir wenigstens etwas, damit ich sagen kann, ich
sei an der Pforte des Paradieses gewesen. Da reichte man ihm einen Schädel
heraus. Alexander nahm den Schädel und legte ihn auf eine Wagschale, und
alles Gold und Silber, was er bei sich hatte, legte er in die andre Wagschale,
allein es wog den Schädel nicht auf. Darüber erstaunt, wandte er sich an
die Rabbinen und befragte sie über die sonderbare Erscheinung. Sie sagten:
Das ist der Schädel eines menschlichen Wesens, dessen Auge unersättlich war.
Alexander fragte: Woher wißt ihr das? Du sollst dich sogleich davon über¬
zeugen. Sie nahmen ein wenig Staub und bestreuten damit den Schädel, und
die Wagschale sank sofort herunter, wie in den Sprüchen geschrieben steht
(27, 20): Die Holle und das Verderben sind nimmer satt, und die Augen des
Menschen sind unersättlich.

Diese Sage haben besonders arabische, persische und türkische Alexander¬
romane mit Vorliebe bearbeitet, nur daß nach ihnen Alexander nicht einen
Zug nach dem Paradiese, sondern nach dem Lebensquell im Lande der Finsterniß
unternimmt. Namentlich eingehend ist die Sage von Firdüs! in seinem sehn-H-
nZme und von seinem Nachfolger, dem romantischen Epiker Nizäin! (f um d.
I. 600 der Hedschra) im letzten Abschnitte seines Jskendernmne behandelt.
Letzterer führt die Sage in drei nebeneinander herlaufenden Traditionen, einer
persischen, einer griechischen und einer arabischen, aus, trägt aber ein Moment
der sufischen Spekulation, der morgenländischen Theosophie in sie hinein: Nach
der in den Hauptmomenten ziemlich übereinstimmenden Darstellung beider
Dichter kommt Alexander, nachdem er die seltsame Frauenstadt Harum im
Rücken hat, zu streitbaren Männern mit rothen Haaren und blassen Gesichtern,
an welche er die Frage richtet, ob sie ihn nicht auf etwas Wunderbares auf¬
merksam machen könnten. Ein Greis gibt ihm zur Antwort, auf der andern
Seite der Stadt befinde sich ein Bassin, auf welches die Sonne ihre glühenden
Strahlen niedersende, und in dessen tiefe Fluthen sie untergehe*); dicke Finster¬
niß lagere hinter ihm über der Welt, und alles sonst in ihr Sichtbare werde
dort unsichtbar; außerdem befinde sich daselbst der aus dem Paradiese kom¬
mende Quell des Lebenswassers, der jedem, welcher daraus trinke, Unsterblich¬
keit verleihe, und wer darin seinen Leib bade, sündenrein mache. Durch diese
Schilderung des Greises angespornt, macht sich Alexander mit einer kleinen
Schaar auserlesener Männer seines Heeres auf den Weg, um das Bassin auf¬
zusuchen. Chiser, eine bekannte mythische Gestalt der Orientalen, welche als



*) Vielleicht ist dabei an den nach der Vorstellung der Alten die Erde umkreisenden
Okeanos zu denken.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/282>, abgerufen am 27.07.2024.