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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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des akademischen Stils auf die Freiheit des Denkens; er vertheidigte mit
Diderot die Inversionen; er sprach aus, daß echte Deutlichkeit in einer ge¬
hörigen Vertheilung von Licht und Schatten bestehe. Sein Einfall, man müsse
Griechisch aus den Dialekten studiren, war ganz in Möser's Sinn. "In der
Sprache jedes Volks finden wir die Geschichte desselben: mich wundert, daß
man noch nicht den Versuch gemacht hat, die Geschichte unsers Geschlechts
und unsrer Seele von dieser Seite näher zu untersuchen."

"Der grammatische und historische Sinn hängen von so willkürlichen
Nebenbestimmungen ab, daß man keine Reise über das Meer noch in die
Gegenden solcher Schatten scheuen darf, die seit hundert oder tausend Jahren
Geheimnisse geglaubt, geredet, gelitten haben, von denen uns die allgemeine
Weltgeschichte kaum soviel Nachricht giebt, als auf dem schmalsten Leichenstein
Raum hat."

Die "Literaturbriefe" waren gewiß nützlich, die mittlere Bildung im rich¬
tigen Gleis zu halten; ebenso nothwendig aber war es, durch geniale Blicke
diese mittlere Bildung vor Ueberhebung zu warnen und sie darauf aufmerksam
zu machen, daß es außerhalb ihres engen Horizontes noch Dinge gebe, von denen
sie keine Ahnung hatte. Die wahrhaft produktiven Kräfte jener Zeit waren
die parodoxen Schriftsteller, die Winckelmann, Möser und Hamann. Inder
Geringschätzung der modernen Zivilisation gingen sie mit Rousseau Hand
in Hand; dann aber trennten sich ihre Wege, da sie auf die Frage: wo ist die
echte Natur? eine verschiedene Antwort fanden.

Kant selbst, der so entschieden für die moderne Zivilisation eintrat, hatte
schon in der "Naturgeschichte des Himmels" einen merkwürdigen Ausspruch
gethan. "Wenn ich den Trieb der alten Völker zu großen Dingen, den
Enthusiasmus der Ehrbegierde, der Tugend und der Freiheitsliebe, der sie mit
hohen Ideen begeisterte und sie über sich selbst erhob, mit der gemäßigten und
kaltsinnigen Beschaffenheit unsrer Zeiten vergleiche, so finde ich zwar Ursache,
unseren Jahrhunderten zu einer solchen Veränderung Glück zu wünschen, welche
der Sittenlehre sowohl als den Wissenschaften gleich einträglich ist, aber ich
gerathe doch in Versuchung, zu vermuthen, daß es vielleicht Merkmale einer
gewissen Erkaltung desjenigen Feuers seien, welches die menschliche Natur be¬
lebte, und dessen Heftigkeit ebenso fruchtbar an Ausschweifungen als schönen
Wirkungen war."

Im Mai 1762 veröffentlichte Rousseau seinen "Emile", nachdem er kurz
vorher den "vortrat social" herausgegeben hatte. Seiner ersten Entdeckung,
die Zivilisation habe die Natur auf den Kopf gestellt, folgte die zweite, man
müsse die Zivilisation auf den Kopf stellen, um zur Natur zurückzukehren, und


des akademischen Stils auf die Freiheit des Denkens; er vertheidigte mit
Diderot die Inversionen; er sprach aus, daß echte Deutlichkeit in einer ge¬
hörigen Vertheilung von Licht und Schatten bestehe. Sein Einfall, man müsse
Griechisch aus den Dialekten studiren, war ganz in Möser's Sinn. „In der
Sprache jedes Volks finden wir die Geschichte desselben: mich wundert, daß
man noch nicht den Versuch gemacht hat, die Geschichte unsers Geschlechts
und unsrer Seele von dieser Seite näher zu untersuchen."

„Der grammatische und historische Sinn hängen von so willkürlichen
Nebenbestimmungen ab, daß man keine Reise über das Meer noch in die
Gegenden solcher Schatten scheuen darf, die seit hundert oder tausend Jahren
Geheimnisse geglaubt, geredet, gelitten haben, von denen uns die allgemeine
Weltgeschichte kaum soviel Nachricht giebt, als auf dem schmalsten Leichenstein
Raum hat."

Die „Literaturbriefe" waren gewiß nützlich, die mittlere Bildung im rich¬
tigen Gleis zu halten; ebenso nothwendig aber war es, durch geniale Blicke
diese mittlere Bildung vor Ueberhebung zu warnen und sie darauf aufmerksam
zu machen, daß es außerhalb ihres engen Horizontes noch Dinge gebe, von denen
sie keine Ahnung hatte. Die wahrhaft produktiven Kräfte jener Zeit waren
die parodoxen Schriftsteller, die Winckelmann, Möser und Hamann. Inder
Geringschätzung der modernen Zivilisation gingen sie mit Rousseau Hand
in Hand; dann aber trennten sich ihre Wege, da sie auf die Frage: wo ist die
echte Natur? eine verschiedene Antwort fanden.

Kant selbst, der so entschieden für die moderne Zivilisation eintrat, hatte
schon in der „Naturgeschichte des Himmels" einen merkwürdigen Ausspruch
gethan. „Wenn ich den Trieb der alten Völker zu großen Dingen, den
Enthusiasmus der Ehrbegierde, der Tugend und der Freiheitsliebe, der sie mit
hohen Ideen begeisterte und sie über sich selbst erhob, mit der gemäßigten und
kaltsinnigen Beschaffenheit unsrer Zeiten vergleiche, so finde ich zwar Ursache,
unseren Jahrhunderten zu einer solchen Veränderung Glück zu wünschen, welche
der Sittenlehre sowohl als den Wissenschaften gleich einträglich ist, aber ich
gerathe doch in Versuchung, zu vermuthen, daß es vielleicht Merkmale einer
gewissen Erkaltung desjenigen Feuers seien, welches die menschliche Natur be¬
lebte, und dessen Heftigkeit ebenso fruchtbar an Ausschweifungen als schönen
Wirkungen war."

Im Mai 1762 veröffentlichte Rousseau seinen „Emile", nachdem er kurz
vorher den „vortrat social" herausgegeben hatte. Seiner ersten Entdeckung,
die Zivilisation habe die Natur auf den Kopf gestellt, folgte die zweite, man
müsse die Zivilisation auf den Kopf stellen, um zur Natur zurückzukehren, und


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[0268] des akademischen Stils auf die Freiheit des Denkens; er vertheidigte mit Diderot die Inversionen; er sprach aus, daß echte Deutlichkeit in einer ge¬ hörigen Vertheilung von Licht und Schatten bestehe. Sein Einfall, man müsse Griechisch aus den Dialekten studiren, war ganz in Möser's Sinn. „In der Sprache jedes Volks finden wir die Geschichte desselben: mich wundert, daß man noch nicht den Versuch gemacht hat, die Geschichte unsers Geschlechts und unsrer Seele von dieser Seite näher zu untersuchen." „Der grammatische und historische Sinn hängen von so willkürlichen Nebenbestimmungen ab, daß man keine Reise über das Meer noch in die Gegenden solcher Schatten scheuen darf, die seit hundert oder tausend Jahren Geheimnisse geglaubt, geredet, gelitten haben, von denen uns die allgemeine Weltgeschichte kaum soviel Nachricht giebt, als auf dem schmalsten Leichenstein Raum hat." Die „Literaturbriefe" waren gewiß nützlich, die mittlere Bildung im rich¬ tigen Gleis zu halten; ebenso nothwendig aber war es, durch geniale Blicke diese mittlere Bildung vor Ueberhebung zu warnen und sie darauf aufmerksam zu machen, daß es außerhalb ihres engen Horizontes noch Dinge gebe, von denen sie keine Ahnung hatte. Die wahrhaft produktiven Kräfte jener Zeit waren die parodoxen Schriftsteller, die Winckelmann, Möser und Hamann. Inder Geringschätzung der modernen Zivilisation gingen sie mit Rousseau Hand in Hand; dann aber trennten sich ihre Wege, da sie auf die Frage: wo ist die echte Natur? eine verschiedene Antwort fanden. Kant selbst, der so entschieden für die moderne Zivilisation eintrat, hatte schon in der „Naturgeschichte des Himmels" einen merkwürdigen Ausspruch gethan. „Wenn ich den Trieb der alten Völker zu großen Dingen, den Enthusiasmus der Ehrbegierde, der Tugend und der Freiheitsliebe, der sie mit hohen Ideen begeisterte und sie über sich selbst erhob, mit der gemäßigten und kaltsinnigen Beschaffenheit unsrer Zeiten vergleiche, so finde ich zwar Ursache, unseren Jahrhunderten zu einer solchen Veränderung Glück zu wünschen, welche der Sittenlehre sowohl als den Wissenschaften gleich einträglich ist, aber ich gerathe doch in Versuchung, zu vermuthen, daß es vielleicht Merkmale einer gewissen Erkaltung desjenigen Feuers seien, welches die menschliche Natur be¬ lebte, und dessen Heftigkeit ebenso fruchtbar an Ausschweifungen als schönen Wirkungen war." Im Mai 1762 veröffentlichte Rousseau seinen „Emile", nachdem er kurz vorher den „vortrat social" herausgegeben hatte. Seiner ersten Entdeckung, die Zivilisation habe die Natur auf den Kopf gestellt, folgte die zweite, man müsse die Zivilisation auf den Kopf stellen, um zur Natur zurückzukehren, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/268>, abgerufen am 24.11.2024.