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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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hat in der That, wie schmutzig sie auch aussah, reinigend gewirkt. Ihre ganz eigen¬
thümliche satirische Kraft, ihr Muthwille, die Ungebundenheit des Denkens und der
Sitte, die sie brachte, verjüngten die deutsche Nation. Die Narrheit hatte in sich nicht
blos ein negatives Wesen, sie stürzte nicht blos um, räumte nicht blos auf, sondern
barg in sich, wie Gervinus sagt, auch positive Kräfte, mit denen sie "dem Volke die
verlorene Freiheit des Geistes wiedergab und sie aus dem Schlafe des Alters, der
Beschaulichkeit, der ^Abgeschiedenheit weckte". Sie verhalf dem Gewissen wieder zu
seinem Rechte, sie beseitigte Scholastik und Papismus. Sie tilgte die Altklugheit der
greisenhafter Jugend, sie gebar jene jugendlichen Humanisten, welchen der ciceronische
Stil und die Belesenheit in dem alten Schriftthum nicht das deutsche Herz verdarb und
nicht den Sinn für das Leben tödtete. Der Gebrauch des Lebens wurde wieder an die
Stelle der mystischen Askese gesetzt, die Thorheit schaffte, was dazu nöthig war, die
Verleugnung der Scheu vor solchem Gebahren. An die Stelle der alten Gefühllosig¬
keit traten wieder die Leidenschaften, die zwar Kennzeichen der Thorheit, nicht der Weis¬
heit sind, aber, als Zuchtmeister derer wirkend, die nach wahrer Weisheit streben, zur
Uebung der Tugend mahnen; denn wo keine Leidenschaft, da ist weder Böses noch
Gutes. Wer dem Menschen die Leidenschaft nimmt, die das Leben ist, der behält ein
starres Bild in den Händen, "und wer würde," sagt Erasmus in seinem Lneowinm
litorne, "solch' einen Menschen nicht wie ein Gespenst fliehen und meiden, der stumpf
wäre gegen alle Triebe der Natur, der nicht mehr wie ein Stein von Leidenschaft,
Liebe und Mitleid bewegt würde, der Alles wüßte, nie irrte, Alles mit der Schnur
masse, nichts übersähe und nur mit sich selbst zufrieden wäre? Welche Stadt würde
ein solches Geschöpf, einen absolut Weisen solcher Art zum Vorsteher, welches Heer
würde ihn zum Feldherrn, welches Weib ihn zum Gatten wählen? Wer würde nicht
vielmehr den ersten besten Narren aus der Hefe des Volkes vorziehen, der, selbst ein
Narr, Narren gehorchen oder befehlen kann, der gegen seines Gleichen freundlich, gegen
die Gattin zärtlich, bei Freunden heiter, ein guter Genosse beim Trinkgelage, ein mun¬
terer Bursch ist und nichts Menschliches von sich fern hält?" . . . "Gibt es eine
glücklichere Menschenklasse als die, welche man Narren nennt? Sie empfinden weder
Furcht noch Hoffnung, werden von keinen Sorgen gequält, fühlen weder Scham, .noch
Ehrgeiz, Neid oder Liebe. Je mehr sie sich der Einfalt der Thiere nähern, desto
weniger kann man ihnen ihr Thun als Sünde anrechnen. Ihnen allein verzeiht man
alles, was sie reden und thun. Fürsten ziehen den Umgang mit ihnen dem mit thörichten
Weisen vor, und lieber als deren verdrießliche Weisheit hören sie die Wahrheit aus
dem Munde der Einfalt. Die verhaßte und verstoßene Wahrheit (die Wahrheit und
Freiheit, die später mit der Reformation triumphirte, während sie vor ihr als Thorheit
erschien) hat allein bei den Narren eine Zuflucht gefunden. Denn, was der Narr auf
dem Herzen hat, das zeigt er in seiner Miene und Rede, die Weisen aber sprechen mit
doppelter Zunge."

In späterer Zeit veränderte sich das Wesen dieser Humoristen. Die Narrheit
begann gewissermaßen zu altern, sie war und äußerte sich in der Literatur weniger.


hat in der That, wie schmutzig sie auch aussah, reinigend gewirkt. Ihre ganz eigen¬
thümliche satirische Kraft, ihr Muthwille, die Ungebundenheit des Denkens und der
Sitte, die sie brachte, verjüngten die deutsche Nation. Die Narrheit hatte in sich nicht
blos ein negatives Wesen, sie stürzte nicht blos um, räumte nicht blos auf, sondern
barg in sich, wie Gervinus sagt, auch positive Kräfte, mit denen sie „dem Volke die
verlorene Freiheit des Geistes wiedergab und sie aus dem Schlafe des Alters, der
Beschaulichkeit, der ^Abgeschiedenheit weckte". Sie verhalf dem Gewissen wieder zu
seinem Rechte, sie beseitigte Scholastik und Papismus. Sie tilgte die Altklugheit der
greisenhafter Jugend, sie gebar jene jugendlichen Humanisten, welchen der ciceronische
Stil und die Belesenheit in dem alten Schriftthum nicht das deutsche Herz verdarb und
nicht den Sinn für das Leben tödtete. Der Gebrauch des Lebens wurde wieder an die
Stelle der mystischen Askese gesetzt, die Thorheit schaffte, was dazu nöthig war, die
Verleugnung der Scheu vor solchem Gebahren. An die Stelle der alten Gefühllosig¬
keit traten wieder die Leidenschaften, die zwar Kennzeichen der Thorheit, nicht der Weis¬
heit sind, aber, als Zuchtmeister derer wirkend, die nach wahrer Weisheit streben, zur
Uebung der Tugend mahnen; denn wo keine Leidenschaft, da ist weder Böses noch
Gutes. Wer dem Menschen die Leidenschaft nimmt, die das Leben ist, der behält ein
starres Bild in den Händen, „und wer würde," sagt Erasmus in seinem Lneowinm
litorne, „solch' einen Menschen nicht wie ein Gespenst fliehen und meiden, der stumpf
wäre gegen alle Triebe der Natur, der nicht mehr wie ein Stein von Leidenschaft,
Liebe und Mitleid bewegt würde, der Alles wüßte, nie irrte, Alles mit der Schnur
masse, nichts übersähe und nur mit sich selbst zufrieden wäre? Welche Stadt würde
ein solches Geschöpf, einen absolut Weisen solcher Art zum Vorsteher, welches Heer
würde ihn zum Feldherrn, welches Weib ihn zum Gatten wählen? Wer würde nicht
vielmehr den ersten besten Narren aus der Hefe des Volkes vorziehen, der, selbst ein
Narr, Narren gehorchen oder befehlen kann, der gegen seines Gleichen freundlich, gegen
die Gattin zärtlich, bei Freunden heiter, ein guter Genosse beim Trinkgelage, ein mun¬
terer Bursch ist und nichts Menschliches von sich fern hält?" . . . „Gibt es eine
glücklichere Menschenklasse als die, welche man Narren nennt? Sie empfinden weder
Furcht noch Hoffnung, werden von keinen Sorgen gequält, fühlen weder Scham, .noch
Ehrgeiz, Neid oder Liebe. Je mehr sie sich der Einfalt der Thiere nähern, desto
weniger kann man ihnen ihr Thun als Sünde anrechnen. Ihnen allein verzeiht man
alles, was sie reden und thun. Fürsten ziehen den Umgang mit ihnen dem mit thörichten
Weisen vor, und lieber als deren verdrießliche Weisheit hören sie die Wahrheit aus
dem Munde der Einfalt. Die verhaßte und verstoßene Wahrheit (die Wahrheit und
Freiheit, die später mit der Reformation triumphirte, während sie vor ihr als Thorheit
erschien) hat allein bei den Narren eine Zuflucht gefunden. Denn, was der Narr auf
dem Herzen hat, das zeigt er in seiner Miene und Rede, die Weisen aber sprechen mit
doppelter Zunge."

In späterer Zeit veränderte sich das Wesen dieser Humoristen. Die Narrheit
begann gewissermaßen zu altern, sie war und äußerte sich in der Literatur weniger.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/257>, abgerufen am 25.11.2024.