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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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der in der Luft liegenden Revolution, die des Menschen natürliche Triebe, seine
ursprüngliche Ungeschliffenheit wieder in ihr Recht einsetzen und zu Ehren bringen sollte.
Aus der versteinerten und dabei verdorbenen Gesellschaft, die dieses Umgestaltungs-
bestreben vorfand, war nichts zu machen, sie mußte erst aller ihr anhaftenden Vcr-
künstelungcn entkleidet werden. Die Satzungen, die der Begriff Anstand einschloß, die
Resultate gelehrter Grübelei wurden mit Füßen getreten, die Reaktion gegen das
Bestehende trat als karrikaturartiger Cynismus auf. Eulenspiegel und seine ganze
Zunft erinnerten in ihrem Gebahren stark an Diogenes und seine Geistesverwandten.
Sie gemahnen aber auch, wie Gervinus weiter zeigt, an die Studentenwelt mit ihrem
Gegensatz gegen die Welt der Philister und namentlich an die ursprüngliche Burschen^
schaft mit ihrer Derbheit und Ungeschlachtheit gegenüber den äußerlich glatten, innerlich
vielfach faulen Korps. "Die Jnkonvenienz ist die Seele des Studenten-, wie des Ncirreu-
treibens." Beide stehen als verkehrte Welt dem Leben außer ihren Kreisen gegenüber.
"Das öffentliche Leben in Deutschland zur Reformationszeit ist das wahre Stndenten-
alter der Nation; das Heraustreten aus sich selbst, aus dem Ancrzognen, die Auf¬
klärung in Religionssachen, die erste Bekanntschaft mit den Dingen der Politik und der
Wissenschaft theilt jeder Einzelne in seinen Studentenjahren mit der Nation in der
Reformationszeit."

Die anbrechende neue Zeit kündigte sich im Leben, wie in einem großen Theile
der Literatur als reiner Gegensatz gegen die Ritterzeit an. Wie Sancho Pansa zu Don
Quixote, so ist Eulenspiegel das Gegenstück zu Parzival. An die Stelle der ritterlichen
Abenteurer mit Adlersfedern auf dem Helme sind fahrende Narren, die mit Eselsohren
und Fuchsschwänzeit an die Thierwelt erinnern, getreten; nicht mehr höfische Edele,
sondern grobe Baucrnrüpel, die jedes Ding ansehen, wie es wirklich ist, und es dreist
beim rechten Namen nennen, sind das Ideal eines großen Theils der Nation. Natur
verdrängt die Unnatur, die Karikatur das Ideal, Rohheit den Anstand, Einfalt die
Weisheit, Wahrheit die Sophistik, Zügellosigkeit die starre Konvenienz, Vogelfreiheit
das Recht, das zum Unrecht geworden ist. Diese Vertreter der Revolution und Anarchie
setzen sich über Alles hinweg. Kein Rang, keine Schranke, keine Obrigkeit flößt
ihnen Achtung ein. Sie spotten des Gewohnten und Alltäglichen, der Philisterei und
Phantasterei, des Aberglaubens, des Dünkels und der Macht; denn sie wissen sich vor
ihrem Gewissen sicher. Sie lachen die Rechtes und Gesetzes, die sich überlebt haben.
Sie würden selbst den Teufel prellen. Ihr Beruf ist nur Umsturz; denn Alles, was
besteht, ist ihnen werth, daß es zu Grunde geht. An Aufbauen denken sie nicht; das
werden Andere nach ihnen thun. Ihre Absicht ist Vereinfachung der Menschen und
der Welt, das nächste große Ziel jeder Umwälzung und Erneuerung, und so schneidet
ihre Satire alles ab bis auf die Wurzel von Allein, die bloße nackte Natur, die der
Mensch mit dein Thiere theilt.

Dieses Streben, richtiger, dieser Drang ist der eigentliche Grund, der innerste
Kern und Charakter der oben betrachteten Schriften und der mitHnen gleichzeitigen
Lebenserscheinungen. Und diese humoristische Vorwclle der Fluth der Reformationszeit


der in der Luft liegenden Revolution, die des Menschen natürliche Triebe, seine
ursprüngliche Ungeschliffenheit wieder in ihr Recht einsetzen und zu Ehren bringen sollte.
Aus der versteinerten und dabei verdorbenen Gesellschaft, die dieses Umgestaltungs-
bestreben vorfand, war nichts zu machen, sie mußte erst aller ihr anhaftenden Vcr-
künstelungcn entkleidet werden. Die Satzungen, die der Begriff Anstand einschloß, die
Resultate gelehrter Grübelei wurden mit Füßen getreten, die Reaktion gegen das
Bestehende trat als karrikaturartiger Cynismus auf. Eulenspiegel und seine ganze
Zunft erinnerten in ihrem Gebahren stark an Diogenes und seine Geistesverwandten.
Sie gemahnen aber auch, wie Gervinus weiter zeigt, an die Studentenwelt mit ihrem
Gegensatz gegen die Welt der Philister und namentlich an die ursprüngliche Burschen^
schaft mit ihrer Derbheit und Ungeschlachtheit gegenüber den äußerlich glatten, innerlich
vielfach faulen Korps. „Die Jnkonvenienz ist die Seele des Studenten-, wie des Ncirreu-
treibens." Beide stehen als verkehrte Welt dem Leben außer ihren Kreisen gegenüber.
„Das öffentliche Leben in Deutschland zur Reformationszeit ist das wahre Stndenten-
alter der Nation; das Heraustreten aus sich selbst, aus dem Ancrzognen, die Auf¬
klärung in Religionssachen, die erste Bekanntschaft mit den Dingen der Politik und der
Wissenschaft theilt jeder Einzelne in seinen Studentenjahren mit der Nation in der
Reformationszeit."

Die anbrechende neue Zeit kündigte sich im Leben, wie in einem großen Theile
der Literatur als reiner Gegensatz gegen die Ritterzeit an. Wie Sancho Pansa zu Don
Quixote, so ist Eulenspiegel das Gegenstück zu Parzival. An die Stelle der ritterlichen
Abenteurer mit Adlersfedern auf dem Helme sind fahrende Narren, die mit Eselsohren
und Fuchsschwänzeit an die Thierwelt erinnern, getreten; nicht mehr höfische Edele,
sondern grobe Baucrnrüpel, die jedes Ding ansehen, wie es wirklich ist, und es dreist
beim rechten Namen nennen, sind das Ideal eines großen Theils der Nation. Natur
verdrängt die Unnatur, die Karikatur das Ideal, Rohheit den Anstand, Einfalt die
Weisheit, Wahrheit die Sophistik, Zügellosigkeit die starre Konvenienz, Vogelfreiheit
das Recht, das zum Unrecht geworden ist. Diese Vertreter der Revolution und Anarchie
setzen sich über Alles hinweg. Kein Rang, keine Schranke, keine Obrigkeit flößt
ihnen Achtung ein. Sie spotten des Gewohnten und Alltäglichen, der Philisterei und
Phantasterei, des Aberglaubens, des Dünkels und der Macht; denn sie wissen sich vor
ihrem Gewissen sicher. Sie lachen die Rechtes und Gesetzes, die sich überlebt haben.
Sie würden selbst den Teufel prellen. Ihr Beruf ist nur Umsturz; denn Alles, was
besteht, ist ihnen werth, daß es zu Grunde geht. An Aufbauen denken sie nicht; das
werden Andere nach ihnen thun. Ihre Absicht ist Vereinfachung der Menschen und
der Welt, das nächste große Ziel jeder Umwälzung und Erneuerung, und so schneidet
ihre Satire alles ab bis auf die Wurzel von Allein, die bloße nackte Natur, die der
Mensch mit dein Thiere theilt.

Dieses Streben, richtiger, dieser Drang ist der eigentliche Grund, der innerste
Kern und Charakter der oben betrachteten Schriften und der mitHnen gleichzeitigen
Lebenserscheinungen. Und diese humoristische Vorwclle der Fluth der Reformationszeit


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[0256] der in der Luft liegenden Revolution, die des Menschen natürliche Triebe, seine ursprüngliche Ungeschliffenheit wieder in ihr Recht einsetzen und zu Ehren bringen sollte. Aus der versteinerten und dabei verdorbenen Gesellschaft, die dieses Umgestaltungs- bestreben vorfand, war nichts zu machen, sie mußte erst aller ihr anhaftenden Vcr- künstelungcn entkleidet werden. Die Satzungen, die der Begriff Anstand einschloß, die Resultate gelehrter Grübelei wurden mit Füßen getreten, die Reaktion gegen das Bestehende trat als karrikaturartiger Cynismus auf. Eulenspiegel und seine ganze Zunft erinnerten in ihrem Gebahren stark an Diogenes und seine Geistesverwandten. Sie gemahnen aber auch, wie Gervinus weiter zeigt, an die Studentenwelt mit ihrem Gegensatz gegen die Welt der Philister und namentlich an die ursprüngliche Burschen^ schaft mit ihrer Derbheit und Ungeschlachtheit gegenüber den äußerlich glatten, innerlich vielfach faulen Korps. „Die Jnkonvenienz ist die Seele des Studenten-, wie des Ncirreu- treibens." Beide stehen als verkehrte Welt dem Leben außer ihren Kreisen gegenüber. „Das öffentliche Leben in Deutschland zur Reformationszeit ist das wahre Stndenten- alter der Nation; das Heraustreten aus sich selbst, aus dem Ancrzognen, die Auf¬ klärung in Religionssachen, die erste Bekanntschaft mit den Dingen der Politik und der Wissenschaft theilt jeder Einzelne in seinen Studentenjahren mit der Nation in der Reformationszeit." Die anbrechende neue Zeit kündigte sich im Leben, wie in einem großen Theile der Literatur als reiner Gegensatz gegen die Ritterzeit an. Wie Sancho Pansa zu Don Quixote, so ist Eulenspiegel das Gegenstück zu Parzival. An die Stelle der ritterlichen Abenteurer mit Adlersfedern auf dem Helme sind fahrende Narren, die mit Eselsohren und Fuchsschwänzeit an die Thierwelt erinnern, getreten; nicht mehr höfische Edele, sondern grobe Baucrnrüpel, die jedes Ding ansehen, wie es wirklich ist, und es dreist beim rechten Namen nennen, sind das Ideal eines großen Theils der Nation. Natur verdrängt die Unnatur, die Karikatur das Ideal, Rohheit den Anstand, Einfalt die Weisheit, Wahrheit die Sophistik, Zügellosigkeit die starre Konvenienz, Vogelfreiheit das Recht, das zum Unrecht geworden ist. Diese Vertreter der Revolution und Anarchie setzen sich über Alles hinweg. Kein Rang, keine Schranke, keine Obrigkeit flößt ihnen Achtung ein. Sie spotten des Gewohnten und Alltäglichen, der Philisterei und Phantasterei, des Aberglaubens, des Dünkels und der Macht; denn sie wissen sich vor ihrem Gewissen sicher. Sie lachen die Rechtes und Gesetzes, die sich überlebt haben. Sie würden selbst den Teufel prellen. Ihr Beruf ist nur Umsturz; denn Alles, was besteht, ist ihnen werth, daß es zu Grunde geht. An Aufbauen denken sie nicht; das werden Andere nach ihnen thun. Ihre Absicht ist Vereinfachung der Menschen und der Welt, das nächste große Ziel jeder Umwälzung und Erneuerung, und so schneidet ihre Satire alles ab bis auf die Wurzel von Allein, die bloße nackte Natur, die der Mensch mit dein Thiere theilt. Dieses Streben, richtiger, dieser Drang ist der eigentliche Grund, der innerste Kern und Charakter der oben betrachteten Schriften und der mitHnen gleichzeitigen Lebenserscheinungen. Und diese humoristische Vorwclle der Fluth der Reformationszeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/256>, abgerufen am 24.11.2024.