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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Sehr zahlreich, aber ihrem Werthe nach sehr verschieden, sind die Anekdotensamm¬
lungen, die in de? ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und darüber hinaus erschienen.
Die erste, die für alle anderen das Vorbild wurde, ist die, welche unter dem Titel
?aoetiÄ<z zuerst lateinisch, dann auch deutsch erschien und den Tübinger Doktor Heinrich
Bebel zum Verfasser hatte. Die schwanke derselben drehen sich, von letzterem meist
unmittelbar aus dem Volksleben herausgegriffen, beinahe nur um die unteren Klassen,
Bauern, Landsknechte, fahrende Schüler und Fastcnprediger, nehmen aber die rohen
Meßpfaffen am schonungslosesten auf's Korn. Der Ablaßkram, die Käuflichkeit der
Pfründen, die Dummheit der Dorfgeistlichen, das wüste Treiben in Rom, alles das ist
hier schon so nackt hingestellt und so scharf gegeißelt wir kaum nach Luther.

Talentvoller noch ist Bebel's erster Nachfolger auf diesem Gebiete, der Bnrfüßer-
mönch Johannes Pauli, aus dessen "Schimpf und Ernst" Merkens einige charakteri¬
stische Proben mittheilt. Pauli schreibt eine vortreffliche naive Prosa voll Leben und
feiner Laune. Mit eindringlichster Ironie verkündet er das Lob der Wahrheit, die sich
hinter der Narrheit verbirgt, allenthalben begegnen wir der Freude an der natürlichen
Einsicht und dem guten Takte der Naturkinder. Mönche, Nonnen, Edelleute, Aerzte,
die Humbug treiben, Gelehrte, die von nutzlosen Wissen aufgebläht sind, fahren am
übelsten dabei. Der große Gegensatz des gesunden Menschenverstandes gegen alle Ver¬
ladung durchdringt das ganze Buch.

Die späteren Sammlungen versahen es, die einen nach dieser, die anderen nach
jener Seite hin. Sie moralisirten entweder zu breit und zu absichtlich und merklich,
oder sie strebten nur zu unterhalte" und zwar meist durch die gröbsten Derbheiten und
Schmutzereien. Zur ersteren Klasse gehört zunächst das "Nachtbüchlein" des Leipziger
Schriftgießers Valentin Schumann, ferner Kirchhof's "Wcndunmuth", der, nieist aus
norddeutscher und fränkischer Volkstradition geschöpft, die Bebel nacherzählten geistlichen
Stücke in usum volxliini kastrirt und den Anekdoten Verse mit moralischer Nutzan¬
wendung angehängt hat, endlich Büttner's "627 Historien von Klaus Narren", die
ebenfalls jede mit einer langstieligen Moral versehen sind, welche den Geschichtchen ihre
naive Harmlosigkeit nimmt. Zu der andern Klasse ist schon Wickram's "Nollwagen-
büchlein", das durch Frey's "Gartengesellschaft" einen zweiten und durch Martin
Montanus in seinem "Wegkürzer" einen dritten Theil erhielt, zu rechnen. Man ver¬
wahrt sich hier zwar in den Vorreden dagegen, bringen zu wollen, was vor Jungfrauen
ungebührlich zu reden wäre; nach dem aber, was dann folgt, müssen die jungen Damen
damaliger Zeit ganz unglaublich viel zu vertragen im Stande gewesen sein. Noch viel
unsauberer sind Lindner's "Rastbüchleiu" und der gleichzeitig erschienene "Katziporus";
das erstere charakterisirt sich durch die auf S. 188 und 189 unsrer Blumenlese daraus
abgedruckten Historien genügend, während der letztere sich schon auf seinem Titel als
ein Sammelsurium ""euer Mucken, seltsamer Grillen, unerhörter Tauben >ab possirlicher
Zoten durch einen guten Kumpan allen guten Schluckern zu Gefallen zusammengetragen"
einführt.

Ein Hauptvertreter des deutschen Humors in der ersten Hälfte des 16. Jahrhun-


Sehr zahlreich, aber ihrem Werthe nach sehr verschieden, sind die Anekdotensamm¬
lungen, die in de? ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und darüber hinaus erschienen.
Die erste, die für alle anderen das Vorbild wurde, ist die, welche unter dem Titel
?aoetiÄ<z zuerst lateinisch, dann auch deutsch erschien und den Tübinger Doktor Heinrich
Bebel zum Verfasser hatte. Die schwanke derselben drehen sich, von letzterem meist
unmittelbar aus dem Volksleben herausgegriffen, beinahe nur um die unteren Klassen,
Bauern, Landsknechte, fahrende Schüler und Fastcnprediger, nehmen aber die rohen
Meßpfaffen am schonungslosesten auf's Korn. Der Ablaßkram, die Käuflichkeit der
Pfründen, die Dummheit der Dorfgeistlichen, das wüste Treiben in Rom, alles das ist
hier schon so nackt hingestellt und so scharf gegeißelt wir kaum nach Luther.

Talentvoller noch ist Bebel's erster Nachfolger auf diesem Gebiete, der Bnrfüßer-
mönch Johannes Pauli, aus dessen „Schimpf und Ernst" Merkens einige charakteri¬
stische Proben mittheilt. Pauli schreibt eine vortreffliche naive Prosa voll Leben und
feiner Laune. Mit eindringlichster Ironie verkündet er das Lob der Wahrheit, die sich
hinter der Narrheit verbirgt, allenthalben begegnen wir der Freude an der natürlichen
Einsicht und dem guten Takte der Naturkinder. Mönche, Nonnen, Edelleute, Aerzte,
die Humbug treiben, Gelehrte, die von nutzlosen Wissen aufgebläht sind, fahren am
übelsten dabei. Der große Gegensatz des gesunden Menschenverstandes gegen alle Ver¬
ladung durchdringt das ganze Buch.

Die späteren Sammlungen versahen es, die einen nach dieser, die anderen nach
jener Seite hin. Sie moralisirten entweder zu breit und zu absichtlich und merklich,
oder sie strebten nur zu unterhalte» und zwar meist durch die gröbsten Derbheiten und
Schmutzereien. Zur ersteren Klasse gehört zunächst das „Nachtbüchlein" des Leipziger
Schriftgießers Valentin Schumann, ferner Kirchhof's „Wcndunmuth", der, nieist aus
norddeutscher und fränkischer Volkstradition geschöpft, die Bebel nacherzählten geistlichen
Stücke in usum volxliini kastrirt und den Anekdoten Verse mit moralischer Nutzan¬
wendung angehängt hat, endlich Büttner's „627 Historien von Klaus Narren", die
ebenfalls jede mit einer langstieligen Moral versehen sind, welche den Geschichtchen ihre
naive Harmlosigkeit nimmt. Zu der andern Klasse ist schon Wickram's „Nollwagen-
büchlein", das durch Frey's „Gartengesellschaft" einen zweiten und durch Martin
Montanus in seinem „Wegkürzer" einen dritten Theil erhielt, zu rechnen. Man ver¬
wahrt sich hier zwar in den Vorreden dagegen, bringen zu wollen, was vor Jungfrauen
ungebührlich zu reden wäre; nach dem aber, was dann folgt, müssen die jungen Damen
damaliger Zeit ganz unglaublich viel zu vertragen im Stande gewesen sein. Noch viel
unsauberer sind Lindner's „Rastbüchleiu" und der gleichzeitig erschienene „Katziporus";
das erstere charakterisirt sich durch die auf S. 188 und 189 unsrer Blumenlese daraus
abgedruckten Historien genügend, während der letztere sich schon auf seinem Titel als
ein Sammelsurium „«euer Mucken, seltsamer Grillen, unerhörter Tauben >ab possirlicher
Zoten durch einen guten Kumpan allen guten Schluckern zu Gefallen zusammengetragen"
einführt.

Ein Hauptvertreter des deutschen Humors in der ersten Hälfte des 16. Jahrhun-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/252>, abgerufen am 24.11.2024.