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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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ein sentimentaler Abfall. Im ersten Gedichte war der Sinn ein ganz anderer,
nämlich vor der Verführung des Dämons, vor der Unnahbarkeit der Geliebten,
die unwillkürlich zu dem Dämon trieb, die Flucht in die Arme des Mannes.
Dies war ein fester, resignirter Schluß, aus dem im neuen Gedichte ein
Triumph geworden ist und werden mußte, nachdem aus dem verführerischen
Dämon ein köstlicher Freund geworden war.

Aber wenn wir das Gedicht jetzt im Gegensatze zu der früheren, in orga¬
nischen Kontrasten stetigen Gestalt als ein sich ebenmäßig steigerndes begreifen,
so begreifen wir es zunächst nur so. Um es auch so zu empfinden,
fehlt dem jetzigen Gedichte die sinnliche Deutlichkeit. Hier könnte der Sänger
den Dichter ergänzen, wenn er noch lebte. Aber wer soll nun dieses Gedicht
komponiren, das, wenn einmal auf eine sich einfach zurückschliugende Melodie
verzichtet werden muß, um den dramatisch eingekleideten Fortgang, um die
starke Steigerung des Schlusses auszudrücken, sofort eine Mannigfaltigkeit von
Stimmungspartikeln aufzeigt, die nun alle ihren eignen musikalischen Ausdruck
haben wollen? Indeß, man kann so komponiren und dabei doch nicht blos
deklamatorisch, sondern zugleich schön und melodisch und thematisch einheitlich
sein, wenn man nämlich Franz Schubert ist. Schubert hat Goethische Lieder
oft genug so komponirt; es sei hier nur an das "Was zieht mir das Herz so"
erinnert. Aber wer soll das "Füllest wieder Busch und Thal" komponiren,
wie es Franz Schubert komponirt hätte, wenn ihm erst der Sinn des Gedichtes
aufgegangen wäre?

Und nun wird es Zeit, Ihnen zu sagen, hochgeehrter Herr Professor,
warum eigentlich dieser Brief an Sie gerichtet worden. Im Eingang sprach
ich davon, wie gut das Schicksal in manchen Stücken es mit den Deutschen
gemeint hat. Bei Ihnen fällt mir ein, daß es zuweilen doch auch die Indi¬
viduen recht gut behandelt. Zu allem Guten, das Ihnen eigen, auch einen
Mund, der Schubert'sche Lieder singt! Denn ein solcher Mund ist sehr selten,
wenn man nämlich nicht zufrieden ist, diese Lieder so zu hören, wie man sie
überall hören kann, und wie sie Vielen immer noch so gefällig klingen mögen
wie vieles Andere. Diese Lieder aber als das hören zu können, was sie sind,
und so sie alle Tage hören zu können, dazu muß man schon ein Auserwählter
sein. Mir ist es ähnlich gut ergangen schon eine Anzahl Jahre und geht mir
uoch so. Nun wollte ich Ihnen sagen, wie sehr ich Ihnen unter vielem Guten
auch dieses Gute gönne -- als ich die Ausführung eines unserer modernen
Pessimisten las, worin Goethe's Wort, er könne sich mit jedem Laster der
Hölle denken, nur nicht mit dem des Neides, mit einer Art von Entrüstung
bezweifelt wird. Sie aber glauben an neidlose Naturen, weil Sie zu ihnen
gehören. So werden Sie sich freuen, wenn ich Ihnen sage, daß ich zur Zeit


ein sentimentaler Abfall. Im ersten Gedichte war der Sinn ein ganz anderer,
nämlich vor der Verführung des Dämons, vor der Unnahbarkeit der Geliebten,
die unwillkürlich zu dem Dämon trieb, die Flucht in die Arme des Mannes.
Dies war ein fester, resignirter Schluß, aus dem im neuen Gedichte ein
Triumph geworden ist und werden mußte, nachdem aus dem verführerischen
Dämon ein köstlicher Freund geworden war.

Aber wenn wir das Gedicht jetzt im Gegensatze zu der früheren, in orga¬
nischen Kontrasten stetigen Gestalt als ein sich ebenmäßig steigerndes begreifen,
so begreifen wir es zunächst nur so. Um es auch so zu empfinden,
fehlt dem jetzigen Gedichte die sinnliche Deutlichkeit. Hier könnte der Sänger
den Dichter ergänzen, wenn er noch lebte. Aber wer soll nun dieses Gedicht
komponiren, das, wenn einmal auf eine sich einfach zurückschliugende Melodie
verzichtet werden muß, um den dramatisch eingekleideten Fortgang, um die
starke Steigerung des Schlusses auszudrücken, sofort eine Mannigfaltigkeit von
Stimmungspartikeln aufzeigt, die nun alle ihren eignen musikalischen Ausdruck
haben wollen? Indeß, man kann so komponiren und dabei doch nicht blos
deklamatorisch, sondern zugleich schön und melodisch und thematisch einheitlich
sein, wenn man nämlich Franz Schubert ist. Schubert hat Goethische Lieder
oft genug so komponirt; es sei hier nur an das „Was zieht mir das Herz so"
erinnert. Aber wer soll das „Füllest wieder Busch und Thal" komponiren,
wie es Franz Schubert komponirt hätte, wenn ihm erst der Sinn des Gedichtes
aufgegangen wäre?

Und nun wird es Zeit, Ihnen zu sagen, hochgeehrter Herr Professor,
warum eigentlich dieser Brief an Sie gerichtet worden. Im Eingang sprach
ich davon, wie gut das Schicksal in manchen Stücken es mit den Deutschen
gemeint hat. Bei Ihnen fällt mir ein, daß es zuweilen doch auch die Indi¬
viduen recht gut behandelt. Zu allem Guten, das Ihnen eigen, auch einen
Mund, der Schubert'sche Lieder singt! Denn ein solcher Mund ist sehr selten,
wenn man nämlich nicht zufrieden ist, diese Lieder so zu hören, wie man sie
überall hören kann, und wie sie Vielen immer noch so gefällig klingen mögen
wie vieles Andere. Diese Lieder aber als das hören zu können, was sie sind,
und so sie alle Tage hören zu können, dazu muß man schon ein Auserwählter
sein. Mir ist es ähnlich gut ergangen schon eine Anzahl Jahre und geht mir
uoch so. Nun wollte ich Ihnen sagen, wie sehr ich Ihnen unter vielem Guten
auch dieses Gute gönne — als ich die Ausführung eines unserer modernen
Pessimisten las, worin Goethe's Wort, er könne sich mit jedem Laster der
Hölle denken, nur nicht mit dem des Neides, mit einer Art von Entrüstung
bezweifelt wird. Sie aber glauben an neidlose Naturen, weil Sie zu ihnen
gehören. So werden Sie sich freuen, wenn ich Ihnen sage, daß ich zur Zeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/168>, abgerufen am 01.09.2024.