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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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stisch angeschlagen hat. Wir nehmen diese Lieder und auch das Goethische als
wehmüthige Erinnerungsbilder schöner Vergangenheit, die am Schluß eine Zu¬
flucht der Resignation erblicken lassen. So hat auch Schubert das Goethische
Lied komponirt; seine Weise ähnelt der des "Guter Mond, dn gehst so stille"
ungefähr so, wie das Goethische Gedicht nach dem allgemeinen Verständniß
jenem Liede gleicht. Aber mit dem Takt, der dem allgemeinen Verständniß fehlt,
hat Schubert die drei Strophen "Ich besaß es doch einmal", "Rausche, Fluß,
das Thal entlang" und "Wenn dn in der Winternacht" ausgeschieden. Läßt
man diese drei Strophen hinweg, so verwandelt sich das Gedicht in die
reine Mondschein-Elegie und kann nach einer einfachen Weise gesungen
werden. Schubert hat eine Melodie für acht Zeilen gebildet, also für je zwei
Strophen, die er dreimal wiederkehren läßt. Er läßt also singen Strophe 1 und 3,
dann nach derselben Melodie 3 und 4, endlich ebenso 8 und 9. Warum ließ
er die Strophen 5, 6 und 7 weg? Schwerlich, weil sie mit ihrem dramatischen
Ausdruck deu Fluß der Melodie unterbrochen hätten. Denn solche Ausrufungen
musikalisch zu gestalten und wieder in die Melodie hinüberzuführen, dafür
hatte Schubert die leichteste Hand. Aber der geniale Sänger hatte das Gefühl,
daß diese Verse die Einheit des Gedichtes unheilbar zerrissen. In der zweiten
Strophe erscheint ein Freund, der ebenso wie der Mond lindernd auf das
Geschick des Dichters blickt. Dann wird der "liebe Fluß" zunächst der Ver¬
traute des Dichters, dann sein Helfer und Befreier: "Rausche, flüstre meinem
Sang Melodieen zu". Und endlich läßt der Dichter diesen Freund wiederum
im Stich und wendet sich zu einem dritten, den er am Busen hält, und mit
dem er genießt, "was von Menschen nicht gewußt" :c. Drei Freunde -- das
ist des Guten zu viel. Die Einführung des dritten, welche das Gedicht an¬
scheinend mit den Worten beginnt: "Selig, wer sich vor der Welt ze." kann man
lesend wohl hinnehmen, gedankenlos lesend, aber musikalisch läßt sie sich nicht
gestalten. Man kann irgend welche Noten dazu finden, aber keine Schubert'schen,
nicht die tiefe Sprache einer wahren Seelenbewegung, wahr nicht blos im Sinne
von aufrichtig, sondern wahr, wie es der Natur der Seele entspricht. Also
warf Schubert den Fluß als Helfer und Befreier des Dichters aus dem Ge¬
dichte hinaus. -- Warum mußte er so früh sterben? Er hat gar manches
Gedicht zwei, drei Mal komponirt. Hätte er Zeit behalten, sich nochmals mit
diesem Gedichte zu beschäftigen, so wäre ihm wohl nicht entgangen, daß, um
dem Gedichte nicht die drei schönsten Strophen zu rauben und andrerseits
die Einheit desselben nicht zu zerpflücken, der Ausweg sich darbietet, unter dem
Freunde, den der Dichter am Busen hält, keinen andern zu verstehen, als den
Fluß; aus der freundschaftlichen Umarmung also ein bloßes Bild zu machen
für die Gewalt des Dichters über den Strom, aus deu letzten beiden Strophen


stisch angeschlagen hat. Wir nehmen diese Lieder und auch das Goethische als
wehmüthige Erinnerungsbilder schöner Vergangenheit, die am Schluß eine Zu¬
flucht der Resignation erblicken lassen. So hat auch Schubert das Goethische
Lied komponirt; seine Weise ähnelt der des „Guter Mond, dn gehst so stille"
ungefähr so, wie das Goethische Gedicht nach dem allgemeinen Verständniß
jenem Liede gleicht. Aber mit dem Takt, der dem allgemeinen Verständniß fehlt,
hat Schubert die drei Strophen „Ich besaß es doch einmal", „Rausche, Fluß,
das Thal entlang" und „Wenn dn in der Winternacht" ausgeschieden. Läßt
man diese drei Strophen hinweg, so verwandelt sich das Gedicht in die
reine Mondschein-Elegie und kann nach einer einfachen Weise gesungen
werden. Schubert hat eine Melodie für acht Zeilen gebildet, also für je zwei
Strophen, die er dreimal wiederkehren läßt. Er läßt also singen Strophe 1 und 3,
dann nach derselben Melodie 3 und 4, endlich ebenso 8 und 9. Warum ließ
er die Strophen 5, 6 und 7 weg? Schwerlich, weil sie mit ihrem dramatischen
Ausdruck deu Fluß der Melodie unterbrochen hätten. Denn solche Ausrufungen
musikalisch zu gestalten und wieder in die Melodie hinüberzuführen, dafür
hatte Schubert die leichteste Hand. Aber der geniale Sänger hatte das Gefühl,
daß diese Verse die Einheit des Gedichtes unheilbar zerrissen. In der zweiten
Strophe erscheint ein Freund, der ebenso wie der Mond lindernd auf das
Geschick des Dichters blickt. Dann wird der „liebe Fluß" zunächst der Ver¬
traute des Dichters, dann sein Helfer und Befreier: „Rausche, flüstre meinem
Sang Melodieen zu". Und endlich läßt der Dichter diesen Freund wiederum
im Stich und wendet sich zu einem dritten, den er am Busen hält, und mit
dem er genießt, „was von Menschen nicht gewußt" :c. Drei Freunde — das
ist des Guten zu viel. Die Einführung des dritten, welche das Gedicht an¬
scheinend mit den Worten beginnt: „Selig, wer sich vor der Welt ze." kann man
lesend wohl hinnehmen, gedankenlos lesend, aber musikalisch läßt sie sich nicht
gestalten. Man kann irgend welche Noten dazu finden, aber keine Schubert'schen,
nicht die tiefe Sprache einer wahren Seelenbewegung, wahr nicht blos im Sinne
von aufrichtig, sondern wahr, wie es der Natur der Seele entspricht. Also
warf Schubert den Fluß als Helfer und Befreier des Dichters aus dem Ge¬
dichte hinaus. — Warum mußte er so früh sterben? Er hat gar manches
Gedicht zwei, drei Mal komponirt. Hätte er Zeit behalten, sich nochmals mit
diesem Gedichte zu beschäftigen, so wäre ihm wohl nicht entgangen, daß, um
dem Gedichte nicht die drei schönsten Strophen zu rauben und andrerseits
die Einheit desselben nicht zu zerpflücken, der Ausweg sich darbietet, unter dem
Freunde, den der Dichter am Busen hält, keinen andern zu verstehen, als den
Fluß; aus der freundschaftlichen Umarmung also ein bloßes Bild zu machen
für die Gewalt des Dichters über den Strom, aus deu letzten beiden Strophen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/165>, abgerufen am 27.07.2024.