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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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aber und einem Lehrsatz ist ein größerer Unterschied, als zwischen einem leben¬
digen Thier und dem anatomischen Geripp. Wer soviel Scharfsinn nöthig
hat, sich selbst von seiner Unwissenheit zu überführen, muß in seinem Herzen
einen mächtigen Widerwillen gegen dieselbe hegen."

"Sokrates hatte gut unwissend sein: er hatte einen Genius, dessen Stimme
er glaubte."

"Aus dieser sokratischen Unwissenheit fließen alle Sonderbarkeiten seiner
Lehr- und Denkart. Was ist natürlicher, als daß er sich genöthigt sah, immer
zu fragen, um klüger zu werden; daß er leichtgläubig that, Jedes Meinung für
wahr annahm und lieber die Probe der Spötterei und guten Laune als eine
ernsthafte Untersuchung anstellte; daß er alle seine Schlüsse sinnlich und nach
der Aehnlichkeit machte; Einfälle sagte, weil er keine Dialektik verstand; daß
er, wie alle Idioten, oft so zuversichtlich und entscheidend sprach!"

"Die Athener waren neugierig. Ein Unwissender ist der beste Arzt für
diese Lustseuche. Sie waren, wie alle Neugierigen, geneigt mitzutheilen; es
mußte ihnen also gefallen, gefragt zu werden. Sie besaßen aber mehr die Gabe,
zu erfinden und vorzutragen, als zu behalten und zu urtheilen; daher hatte
Sokrates immer Gelegenheit, ihr Gedächtniß und ihre Urtheilskraft zu vertreten
und sie vor Leichtsinn und Eitelkeit zu warnen. Jede neue Secte der Sophisten
versprach eine Encyklopädie der gesunden Vernunft und Erfahrung: das warm
die Näschereien, die Sokrates seinen Mitbürgern zu verleiden suchte: er lockte
sie aus den Labyrinthen ihrer Gelehrten zu einer Wahrheit, die im Verbor¬
genen liegt, zum Dienst eines unbekannten Gottes."

So hatte sich auch Hamann seine Aufgabe vorgezeichnet, freilich mit
klarem Bewußtsein des zu erwartenden Erfolges. "Wer nicht vou Brosamen
zu leben und für ein Schwert alles zu entbehren weiß, ist nicht geschickt zum
Dienst der Wahrheit; er werde früh ein vernünftiger, brauchbarer, artiger
Mann, oder lerne Bücklinge machen und Teller lecken: so ist er vor Hunger
und Durst, vor Galgen und Rad sein Leben lang sicher."

Die "Denkwürdigkeiten des Sokrates" waren in den "Literaturbriefen"
besprochen, und zwar mit Lob; da aber der Referent die Meinung des Ver¬
fassers öfters mißverstanden hatte, und da andere Blätter ihn mit oberfläch¬
lichem Spott abfertigten, glaubte Hamann die Fehde aufnehmen zu sollen:
seine "Wolken" (Februar 1761) sind eine förmliche Kriegserklärung gegen die
moderne Literatur.

"Man beschuldigt die Griechen," heißt es da, "daß sie das Heiligthum der
Wissenschaften gemein gemacht, die Poesie eines Originalgedankens in die flüssige
Prosa der Kaffeekreise und Spieltische zierlich übersetzt hätten, und daß die
Geheimnisse morgenländischer Weisheit auf ihrem Grund und Boden zu Schmack-


aber und einem Lehrsatz ist ein größerer Unterschied, als zwischen einem leben¬
digen Thier und dem anatomischen Geripp. Wer soviel Scharfsinn nöthig
hat, sich selbst von seiner Unwissenheit zu überführen, muß in seinem Herzen
einen mächtigen Widerwillen gegen dieselbe hegen."

„Sokrates hatte gut unwissend sein: er hatte einen Genius, dessen Stimme
er glaubte."

„Aus dieser sokratischen Unwissenheit fließen alle Sonderbarkeiten seiner
Lehr- und Denkart. Was ist natürlicher, als daß er sich genöthigt sah, immer
zu fragen, um klüger zu werden; daß er leichtgläubig that, Jedes Meinung für
wahr annahm und lieber die Probe der Spötterei und guten Laune als eine
ernsthafte Untersuchung anstellte; daß er alle seine Schlüsse sinnlich und nach
der Aehnlichkeit machte; Einfälle sagte, weil er keine Dialektik verstand; daß
er, wie alle Idioten, oft so zuversichtlich und entscheidend sprach!"

„Die Athener waren neugierig. Ein Unwissender ist der beste Arzt für
diese Lustseuche. Sie waren, wie alle Neugierigen, geneigt mitzutheilen; es
mußte ihnen also gefallen, gefragt zu werden. Sie besaßen aber mehr die Gabe,
zu erfinden und vorzutragen, als zu behalten und zu urtheilen; daher hatte
Sokrates immer Gelegenheit, ihr Gedächtniß und ihre Urtheilskraft zu vertreten
und sie vor Leichtsinn und Eitelkeit zu warnen. Jede neue Secte der Sophisten
versprach eine Encyklopädie der gesunden Vernunft und Erfahrung: das warm
die Näschereien, die Sokrates seinen Mitbürgern zu verleiden suchte: er lockte
sie aus den Labyrinthen ihrer Gelehrten zu einer Wahrheit, die im Verbor¬
genen liegt, zum Dienst eines unbekannten Gottes."

So hatte sich auch Hamann seine Aufgabe vorgezeichnet, freilich mit
klarem Bewußtsein des zu erwartenden Erfolges. „Wer nicht vou Brosamen
zu leben und für ein Schwert alles zu entbehren weiß, ist nicht geschickt zum
Dienst der Wahrheit; er werde früh ein vernünftiger, brauchbarer, artiger
Mann, oder lerne Bücklinge machen und Teller lecken: so ist er vor Hunger
und Durst, vor Galgen und Rad sein Leben lang sicher."

Die „Denkwürdigkeiten des Sokrates" waren in den „Literaturbriefen"
besprochen, und zwar mit Lob; da aber der Referent die Meinung des Ver¬
fassers öfters mißverstanden hatte, und da andere Blätter ihn mit oberfläch¬
lichem Spott abfertigten, glaubte Hamann die Fehde aufnehmen zu sollen:
seine „Wolken" (Februar 1761) sind eine förmliche Kriegserklärung gegen die
moderne Literatur.

„Man beschuldigt die Griechen," heißt es da, „daß sie das Heiligthum der
Wissenschaften gemein gemacht, die Poesie eines Originalgedankens in die flüssige
Prosa der Kaffeekreise und Spieltische zierlich übersetzt hätten, und daß die
Geheimnisse morgenländischer Weisheit auf ihrem Grund und Boden zu Schmack-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/146>, abgerufen am 24.11.2024.