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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Putztisch eines Stutzers. Jedes Buch ist mir eine Bibel und jedes Geschäft
ein Gebet."

Er las die griechischen Schriftsteller, Dichter und Prosaiker, die Propheten
und ihre Ausleger, den Koran und den Hippokmtes, die Kirchenväter und andere
Theologen, aber auch die Engländer und Franzosen. Die derbsten zog er vor;
Persius, Petron und Rabelais gehörten zu seiner Lieblingslektüre, später Raynal,
Chamfort, Retif de la Bretonne.

Das Erbauliche in der Bibel, auf das die Rationalisten wie Klopstock aus¬
schließlich Werth gelegt, war ihm Nebensache; er faßte sie in ihrer historischen
Aarbe, mit halb humoristischem Blick; sie war ihm eine geistreiche und interes¬
sante Erscheinung gerade in ihrem Widerspruch gegen die platte Allerweltsmoral.
Hierin liegt seine Bedeutung für die Literaturgeschichte. Uebrigens fand er
sich glücklich in seinem geschäftigen Müßiggang und vermißte nur Menschen,
gegen die er sich aussprechen konnte.

Kant antwortete auf seine feurigen Liebesbriefe sehr gemessen; er war
an ruhiges und folgerechtes Denken gewöhnt, und so war ihm die springende
Art des neuen Freundes unbequem. Außerdem 'mochte er bei Tisch nicht Philo¬
sophiren, während Hamanni nur glücklich war, wenn er Spiel und Arbeit
durcheinander wirren konnte.

Durch Kant aber wurde Hamann bestimmt, ein Schriftsteller zu werden:
er widmete seine "sokratische Denkwürdigkeiten" zugleich "Niemand dem Künd¬
baren", d. h. dem Publikum, und "Zween", d. h. Kant und Berens. Durch
diese Schrift wurde er zuerst dem Publikum bekannt; die "Anmerkungen zur
Bibel" wurden erst aus seinem Nachlaß herausgegeben.

Die Auffassung des griechischen Wesens in dieser kleinen Schrift weicht sehr
wesentlich sowohl von der herkömmlichen als von der durch Winckelmann ge¬
fundenen ab.

"Vorrates scheint von seiner Unwissenheit soviel geredet zu haben als ein
Hypochonder von seiner eingebildeten Krankheit. Wie man dies Uebel selbst
kennen muß, um einen Milzsüchtigen zu verstehn, so gehört vielleicht eine
Sympathie der Unwissenheit dazu, von der Soldatischen einen Begriff zu
geben. -- Wenn Salomo ausruft: Alles ist eitel! und ein alter Geck es ihm
nachspricht, so sieht man, daß einerlei Wahrheiten mit einem sehr entgegen¬
gesetzten Geist ausgesprochen werden können. -- Wenn Sokrates dem Kriton
durch sein: Nichts weiß ich! Rechenschaft ablegte, mit eben diesem Wort die
gelehrten und neugierigen Athener abwies und seinen schönen Jünglingen die
Verleugnung ihrer Eitelkeit zu erleichtern suchte, so sind das drei verschiedene
Dinge."

"Die Unwissenheit des Sokrates war Empfindung. Zwischen Empfindung


Putztisch eines Stutzers. Jedes Buch ist mir eine Bibel und jedes Geschäft
ein Gebet."

Er las die griechischen Schriftsteller, Dichter und Prosaiker, die Propheten
und ihre Ausleger, den Koran und den Hippokmtes, die Kirchenväter und andere
Theologen, aber auch die Engländer und Franzosen. Die derbsten zog er vor;
Persius, Petron und Rabelais gehörten zu seiner Lieblingslektüre, später Raynal,
Chamfort, Retif de la Bretonne.

Das Erbauliche in der Bibel, auf das die Rationalisten wie Klopstock aus¬
schließlich Werth gelegt, war ihm Nebensache; er faßte sie in ihrer historischen
Aarbe, mit halb humoristischem Blick; sie war ihm eine geistreiche und interes¬
sante Erscheinung gerade in ihrem Widerspruch gegen die platte Allerweltsmoral.
Hierin liegt seine Bedeutung für die Literaturgeschichte. Uebrigens fand er
sich glücklich in seinem geschäftigen Müßiggang und vermißte nur Menschen,
gegen die er sich aussprechen konnte.

Kant antwortete auf seine feurigen Liebesbriefe sehr gemessen; er war
an ruhiges und folgerechtes Denken gewöhnt, und so war ihm die springende
Art des neuen Freundes unbequem. Außerdem 'mochte er bei Tisch nicht Philo¬
sophiren, während Hamanni nur glücklich war, wenn er Spiel und Arbeit
durcheinander wirren konnte.

Durch Kant aber wurde Hamann bestimmt, ein Schriftsteller zu werden:
er widmete seine „sokratische Denkwürdigkeiten" zugleich „Niemand dem Künd¬
baren", d. h. dem Publikum, und „Zween", d. h. Kant und Berens. Durch
diese Schrift wurde er zuerst dem Publikum bekannt; die „Anmerkungen zur
Bibel" wurden erst aus seinem Nachlaß herausgegeben.

Die Auffassung des griechischen Wesens in dieser kleinen Schrift weicht sehr
wesentlich sowohl von der herkömmlichen als von der durch Winckelmann ge¬
fundenen ab.

„Vorrates scheint von seiner Unwissenheit soviel geredet zu haben als ein
Hypochonder von seiner eingebildeten Krankheit. Wie man dies Uebel selbst
kennen muß, um einen Milzsüchtigen zu verstehn, so gehört vielleicht eine
Sympathie der Unwissenheit dazu, von der Soldatischen einen Begriff zu
geben. — Wenn Salomo ausruft: Alles ist eitel! und ein alter Geck es ihm
nachspricht, so sieht man, daß einerlei Wahrheiten mit einem sehr entgegen¬
gesetzten Geist ausgesprochen werden können. — Wenn Sokrates dem Kriton
durch sein: Nichts weiß ich! Rechenschaft ablegte, mit eben diesem Wort die
gelehrten und neugierigen Athener abwies und seinen schönen Jünglingen die
Verleugnung ihrer Eitelkeit zu erleichtern suchte, so sind das drei verschiedene
Dinge."

„Die Unwissenheit des Sokrates war Empfindung. Zwischen Empfindung


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[0145] Putztisch eines Stutzers. Jedes Buch ist mir eine Bibel und jedes Geschäft ein Gebet." Er las die griechischen Schriftsteller, Dichter und Prosaiker, die Propheten und ihre Ausleger, den Koran und den Hippokmtes, die Kirchenväter und andere Theologen, aber auch die Engländer und Franzosen. Die derbsten zog er vor; Persius, Petron und Rabelais gehörten zu seiner Lieblingslektüre, später Raynal, Chamfort, Retif de la Bretonne. Das Erbauliche in der Bibel, auf das die Rationalisten wie Klopstock aus¬ schließlich Werth gelegt, war ihm Nebensache; er faßte sie in ihrer historischen Aarbe, mit halb humoristischem Blick; sie war ihm eine geistreiche und interes¬ sante Erscheinung gerade in ihrem Widerspruch gegen die platte Allerweltsmoral. Hierin liegt seine Bedeutung für die Literaturgeschichte. Uebrigens fand er sich glücklich in seinem geschäftigen Müßiggang und vermißte nur Menschen, gegen die er sich aussprechen konnte. Kant antwortete auf seine feurigen Liebesbriefe sehr gemessen; er war an ruhiges und folgerechtes Denken gewöhnt, und so war ihm die springende Art des neuen Freundes unbequem. Außerdem 'mochte er bei Tisch nicht Philo¬ sophiren, während Hamanni nur glücklich war, wenn er Spiel und Arbeit durcheinander wirren konnte. Durch Kant aber wurde Hamann bestimmt, ein Schriftsteller zu werden: er widmete seine „sokratische Denkwürdigkeiten" zugleich „Niemand dem Künd¬ baren", d. h. dem Publikum, und „Zween", d. h. Kant und Berens. Durch diese Schrift wurde er zuerst dem Publikum bekannt; die „Anmerkungen zur Bibel" wurden erst aus seinem Nachlaß herausgegeben. Die Auffassung des griechischen Wesens in dieser kleinen Schrift weicht sehr wesentlich sowohl von der herkömmlichen als von der durch Winckelmann ge¬ fundenen ab. „Vorrates scheint von seiner Unwissenheit soviel geredet zu haben als ein Hypochonder von seiner eingebildeten Krankheit. Wie man dies Uebel selbst kennen muß, um einen Milzsüchtigen zu verstehn, so gehört vielleicht eine Sympathie der Unwissenheit dazu, von der Soldatischen einen Begriff zu geben. — Wenn Salomo ausruft: Alles ist eitel! und ein alter Geck es ihm nachspricht, so sieht man, daß einerlei Wahrheiten mit einem sehr entgegen¬ gesetzten Geist ausgesprochen werden können. — Wenn Sokrates dem Kriton durch sein: Nichts weiß ich! Rechenschaft ablegte, mit eben diesem Wort die gelehrten und neugierigen Athener abwies und seinen schönen Jünglingen die Verleugnung ihrer Eitelkeit zu erleichtern suchte, so sind das drei verschiedene Dinge." „Die Unwissenheit des Sokrates war Empfindung. Zwischen Empfindung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/145>, abgerufen am 24.11.2024.