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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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In dieser Stimmung fiel ihm eine Bibel in die Hände: "Es schien," schreibt
er, "als wenn ich eine Decke über meine Vernunft und mein Herz gewahr würde,
die mir das Buch bisher verschlossen hätte. Je weiter ich kam, je neuer wurde
es mir, je göttlicher erfuhr ich den Inhalt und die Wirkung desselben. Ich
sand, daß alle Geschichte, alle Wunder, alle Gebote und Werke Gottes auf
den einen Mittelpunkt zusammenliefen: die Seele des Menschen aus der
Sklaverei, Blindheit und Sünde zur höchsten Seligkeit zu erlösen. Ich erkannte
meine eignen Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volks, ich las meinen
eignen Lebenslauf, wenn ich sah, daß die Jsraeliten ihren Ungehorsam reuig
erkannten und ihre Buße gleichwohl ebenso geschwind vergaßen, in der Angst
aber um Nichts als einen Erlöser riefen, ohne den sie unmöglich Gott weder
recht fürchten noch recht lieben konnten."

"Ueber diesen Betrachtungen verfiel ich in ein tiefes Nachdenken. Ich dachte
an Kam, von dem Gott fagte, die Erde hat ihren Mund aufgethan, um das
Blut deines Bruders zu empfange"! ich fühlte mein Herz klopfen, ich hörte
eine Stimme in der Tiefe desselben seufzen und jammern, als die Stimme des
erschlagenen Bruders, der sein Blut rächen wollte, wenn ich fortführe, mein
Ohr zu verstopfen; mein Herz ergoß sich in Thränen, und ich konnte es meinem
Gott nicht länger verhehlen, daß ich der Brudermörder, der Mörder seines
eingebornen Sohnes war!"

"Ohne Gottes Wort scheint der ganze Mensch nichts als Erde zu sein, und
Finsterniß aus der Fläche der Tiefe. Wollen wir etwas wissen über diese un¬
gestillte, leere, geheimnißvolle Welt, so laßt uns den Geist fragen, der über der
Tiefe schwebt."

"Gott offenbart sich; der Schöpfer der Welt wird ein Schriftsteller. Die
Rede ist nicht von einer Offenbarung, die ein Voltaire, ein Bolingbroke, ein
Shaftesbury annehmbar finden, die ihren Vorurtheilen, ihrem Witz, ihren
Gründen Genüge thun würde. Leute, die sich Einsicht genug zutrauen, um
eines göttlichen Unterrichts entbehren zu können, würden in jeder andren Offen¬
barung Fehler gefunden haben, und haben keine nöthig. Sie sind die Gesunden,
die des Arztes nicht bedürfen."

"So sehr ist unsere Religion für unsere Schwachheiten und Mängel ein¬
gerichtet, daß sie alle diese in Wohlthaten und Schönheiten verwandelt. Alles
was der irdischen Vernunft unwahrscheinlich und lächerlich vorkommt, ist den
Christen unwiderleglich; was die Vernunft verzagt macht, richtet uns auf und
macht uns stark in Gott." -- "Wenn man erwägt, wieviel Stärke und Ge¬
schwindigkeit, deren wir sonst nicht fähig sind, uns die Furcht einer außer¬
ordentlichen Gefahr gibt, so begreift man, warum ein Christ dem natürlichen


In dieser Stimmung fiel ihm eine Bibel in die Hände: „Es schien," schreibt
er, „als wenn ich eine Decke über meine Vernunft und mein Herz gewahr würde,
die mir das Buch bisher verschlossen hätte. Je weiter ich kam, je neuer wurde
es mir, je göttlicher erfuhr ich den Inhalt und die Wirkung desselben. Ich
sand, daß alle Geschichte, alle Wunder, alle Gebote und Werke Gottes auf
den einen Mittelpunkt zusammenliefen: die Seele des Menschen aus der
Sklaverei, Blindheit und Sünde zur höchsten Seligkeit zu erlösen. Ich erkannte
meine eignen Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volks, ich las meinen
eignen Lebenslauf, wenn ich sah, daß die Jsraeliten ihren Ungehorsam reuig
erkannten und ihre Buße gleichwohl ebenso geschwind vergaßen, in der Angst
aber um Nichts als einen Erlöser riefen, ohne den sie unmöglich Gott weder
recht fürchten noch recht lieben konnten."

„Ueber diesen Betrachtungen verfiel ich in ein tiefes Nachdenken. Ich dachte
an Kam, von dem Gott fagte, die Erde hat ihren Mund aufgethan, um das
Blut deines Bruders zu empfange»! ich fühlte mein Herz klopfen, ich hörte
eine Stimme in der Tiefe desselben seufzen und jammern, als die Stimme des
erschlagenen Bruders, der sein Blut rächen wollte, wenn ich fortführe, mein
Ohr zu verstopfen; mein Herz ergoß sich in Thränen, und ich konnte es meinem
Gott nicht länger verhehlen, daß ich der Brudermörder, der Mörder seines
eingebornen Sohnes war!"

„Ohne Gottes Wort scheint der ganze Mensch nichts als Erde zu sein, und
Finsterniß aus der Fläche der Tiefe. Wollen wir etwas wissen über diese un¬
gestillte, leere, geheimnißvolle Welt, so laßt uns den Geist fragen, der über der
Tiefe schwebt."

„Gott offenbart sich; der Schöpfer der Welt wird ein Schriftsteller. Die
Rede ist nicht von einer Offenbarung, die ein Voltaire, ein Bolingbroke, ein
Shaftesbury annehmbar finden, die ihren Vorurtheilen, ihrem Witz, ihren
Gründen Genüge thun würde. Leute, die sich Einsicht genug zutrauen, um
eines göttlichen Unterrichts entbehren zu können, würden in jeder andren Offen¬
barung Fehler gefunden haben, und haben keine nöthig. Sie sind die Gesunden,
die des Arztes nicht bedürfen."

„So sehr ist unsere Religion für unsere Schwachheiten und Mängel ein¬
gerichtet, daß sie alle diese in Wohlthaten und Schönheiten verwandelt. Alles
was der irdischen Vernunft unwahrscheinlich und lächerlich vorkommt, ist den
Christen unwiderleglich; was die Vernunft verzagt macht, richtet uns auf und
macht uns stark in Gott." — „Wenn man erwägt, wieviel Stärke und Ge¬
schwindigkeit, deren wir sonst nicht fähig sind, uns die Furcht einer außer¬
ordentlichen Gefahr gibt, so begreift man, warum ein Christ dem natürlichen


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[0142] In dieser Stimmung fiel ihm eine Bibel in die Hände: „Es schien," schreibt er, „als wenn ich eine Decke über meine Vernunft und mein Herz gewahr würde, die mir das Buch bisher verschlossen hätte. Je weiter ich kam, je neuer wurde es mir, je göttlicher erfuhr ich den Inhalt und die Wirkung desselben. Ich sand, daß alle Geschichte, alle Wunder, alle Gebote und Werke Gottes auf den einen Mittelpunkt zusammenliefen: die Seele des Menschen aus der Sklaverei, Blindheit und Sünde zur höchsten Seligkeit zu erlösen. Ich erkannte meine eignen Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volks, ich las meinen eignen Lebenslauf, wenn ich sah, daß die Jsraeliten ihren Ungehorsam reuig erkannten und ihre Buße gleichwohl ebenso geschwind vergaßen, in der Angst aber um Nichts als einen Erlöser riefen, ohne den sie unmöglich Gott weder recht fürchten noch recht lieben konnten." „Ueber diesen Betrachtungen verfiel ich in ein tiefes Nachdenken. Ich dachte an Kam, von dem Gott fagte, die Erde hat ihren Mund aufgethan, um das Blut deines Bruders zu empfange»! ich fühlte mein Herz klopfen, ich hörte eine Stimme in der Tiefe desselben seufzen und jammern, als die Stimme des erschlagenen Bruders, der sein Blut rächen wollte, wenn ich fortführe, mein Ohr zu verstopfen; mein Herz ergoß sich in Thränen, und ich konnte es meinem Gott nicht länger verhehlen, daß ich der Brudermörder, der Mörder seines eingebornen Sohnes war!" „Ohne Gottes Wort scheint der ganze Mensch nichts als Erde zu sein, und Finsterniß aus der Fläche der Tiefe. Wollen wir etwas wissen über diese un¬ gestillte, leere, geheimnißvolle Welt, so laßt uns den Geist fragen, der über der Tiefe schwebt." „Gott offenbart sich; der Schöpfer der Welt wird ein Schriftsteller. Die Rede ist nicht von einer Offenbarung, die ein Voltaire, ein Bolingbroke, ein Shaftesbury annehmbar finden, die ihren Vorurtheilen, ihrem Witz, ihren Gründen Genüge thun würde. Leute, die sich Einsicht genug zutrauen, um eines göttlichen Unterrichts entbehren zu können, würden in jeder andren Offen¬ barung Fehler gefunden haben, und haben keine nöthig. Sie sind die Gesunden, die des Arztes nicht bedürfen." „So sehr ist unsere Religion für unsere Schwachheiten und Mängel ein¬ gerichtet, daß sie alle diese in Wohlthaten und Schönheiten verwandelt. Alles was der irdischen Vernunft unwahrscheinlich und lächerlich vorkommt, ist den Christen unwiderleglich; was die Vernunft verzagt macht, richtet uns auf und macht uns stark in Gott." — „Wenn man erwägt, wieviel Stärke und Ge¬ schwindigkeit, deren wir sonst nicht fähig sind, uns die Furcht einer außer¬ ordentlichen Gefahr gibt, so begreift man, warum ein Christ dem natürlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/142>, abgerufen am 25.11.2024.