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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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lischen Angelegenheiten vor ein europäisches Forum im Gegensatz zu dem seither
ausschließlich westmächtlichen gezogen worden, mit mehr Einflüssen zu rechnen
und deshalb in allen einzelnen Fällen einen kombinirteren und zugleich koinpli-
zirteren Kalkül aufzustellen haben wird, so ist sie doch auch der Gefahr mehr ent¬
zogen, am Nil einem einzelnen, überwältigenden äußeren Druck weichen zu müssen.
Denn erforderlichen Falles fände sie Stützpunkte wider denselben uach mehr
als einer Seite hin. Gerade hierauf aber mußte es einem Reiche ankommen,
das wie das türkische den europäischen Mächten gegenüber nicht sowohl auf
seine eigene Stärke, als vielmehr auf die Ausbeutung der jene Mächte scheiden¬
den Gegensätze augewiesen ist.

Indem aber der türkische Premier die Ueberreichung der deutschen Protest¬
note zu Kairo zum Anlaß eines entschiedenen Vorgehens nahm, reichten seine
Ueberlegungen ohne Zweifel noch weiter. Das, um was es sich sofort für ihn
handelte, war bezüglich Aegypten's unbedingt die Wiederaufnahme jener traditionellen
Politik der Pforte, als deren letzter Vertreter der am 6. September 1871 ver¬
storbene Großwesir A'all Pascha sich einen Namen erworben hat. Motive dazu
konnten in einer Zeit um so weniger fehlen, in der die Türkei auf der Balkan-
Halbinsel und im östlichen Anatolien durch den letzten Krieg große territoriale
Verluste erlitten hatte, die als unwiederbringlich angesehen werden mußten.
Wenn der Gedanke dadurch nahe gelegt wurde, das Verlorene baldmöglichst
auf einer andern Seite zurückzugewinnen, so mußte sich zu allererst der Blick
auf die Nillande richten, umsomehr, da man hier ebenfalls jüngst verlorenes
vor sich hatte, das man aber, wie die Dinge nun einmal liegen, ohne große
Schwierigkeiten und namentlich ohne Krieg sich wieder aneignen konnte.*)

Das eigentliche Ziel der durch Khereddin verfolgten Politik kann hente noch
nicht mit vollkommener Sicherheit festgestellt werden. Namentlich muß dahin¬
gestellt bleiben, ob er eine unmittelbare Verbindung der khedivischen Besitzungen
mit dem osmanischen Reiche sich als letzte Aufgabe festgestellt hat. Den Ein¬
wand, den man einem derartigen Plane wohl entgegenzustellen versucht sein
möchte, daß dadurch die räumlichen Grenzen des türkischen Gebietes eine Ver¬
schiebung erleiden würden, welche die Behauptung seiner heutigen Hauptstadt



5) Obige Bemerkungen nehmen auf die allmähliche Lösung des Bandes zwischen der
Pforte und Aegypten Bezug, die sich erst zu Ende der sechziger und Anfang der siebziger
Jahre vollzogen und in dem vom Khedive durch Bestechung des übelverüchtigen ehemaligen
Großwesirs Mahmud Radien Pascha erlangten Fernau vom 13. Rein ni Achir des Jahres
der Hedschra 1250 ihr Sanktion empfangen hat. Durch diesen Freibrief waren die Prä¬
rogative des Vizekönigs fast bis zu den Befugnissen eines unabhängigen Souveräns er¬
weitert worden; selbstverständlich zum entschiedenen Nachtheil der Pforte, die dadurch den
Haupttheil der ihr auf die Nillande verbliebenen suzeräncn Ansprüche freiwillig preis¬
gegeben hatte.

lischen Angelegenheiten vor ein europäisches Forum im Gegensatz zu dem seither
ausschließlich westmächtlichen gezogen worden, mit mehr Einflüssen zu rechnen
und deshalb in allen einzelnen Fällen einen kombinirteren und zugleich koinpli-
zirteren Kalkül aufzustellen haben wird, so ist sie doch auch der Gefahr mehr ent¬
zogen, am Nil einem einzelnen, überwältigenden äußeren Druck weichen zu müssen.
Denn erforderlichen Falles fände sie Stützpunkte wider denselben uach mehr
als einer Seite hin. Gerade hierauf aber mußte es einem Reiche ankommen,
das wie das türkische den europäischen Mächten gegenüber nicht sowohl auf
seine eigene Stärke, als vielmehr auf die Ausbeutung der jene Mächte scheiden¬
den Gegensätze augewiesen ist.

Indem aber der türkische Premier die Ueberreichung der deutschen Protest¬
note zu Kairo zum Anlaß eines entschiedenen Vorgehens nahm, reichten seine
Ueberlegungen ohne Zweifel noch weiter. Das, um was es sich sofort für ihn
handelte, war bezüglich Aegypten's unbedingt die Wiederaufnahme jener traditionellen
Politik der Pforte, als deren letzter Vertreter der am 6. September 1871 ver¬
storbene Großwesir A'all Pascha sich einen Namen erworben hat. Motive dazu
konnten in einer Zeit um so weniger fehlen, in der die Türkei auf der Balkan-
Halbinsel und im östlichen Anatolien durch den letzten Krieg große territoriale
Verluste erlitten hatte, die als unwiederbringlich angesehen werden mußten.
Wenn der Gedanke dadurch nahe gelegt wurde, das Verlorene baldmöglichst
auf einer andern Seite zurückzugewinnen, so mußte sich zu allererst der Blick
auf die Nillande richten, umsomehr, da man hier ebenfalls jüngst verlorenes
vor sich hatte, das man aber, wie die Dinge nun einmal liegen, ohne große
Schwierigkeiten und namentlich ohne Krieg sich wieder aneignen konnte.*)

Das eigentliche Ziel der durch Khereddin verfolgten Politik kann hente noch
nicht mit vollkommener Sicherheit festgestellt werden. Namentlich muß dahin¬
gestellt bleiben, ob er eine unmittelbare Verbindung der khedivischen Besitzungen
mit dem osmanischen Reiche sich als letzte Aufgabe festgestellt hat. Den Ein¬
wand, den man einem derartigen Plane wohl entgegenzustellen versucht sein
möchte, daß dadurch die räumlichen Grenzen des türkischen Gebietes eine Ver¬
schiebung erleiden würden, welche die Behauptung seiner heutigen Hauptstadt



5) Obige Bemerkungen nehmen auf die allmähliche Lösung des Bandes zwischen der
Pforte und Aegypten Bezug, die sich erst zu Ende der sechziger und Anfang der siebziger
Jahre vollzogen und in dem vom Khedive durch Bestechung des übelverüchtigen ehemaligen
Großwesirs Mahmud Radien Pascha erlangten Fernau vom 13. Rein ni Achir des Jahres
der Hedschra 1250 ihr Sanktion empfangen hat. Durch diesen Freibrief waren die Prä¬
rogative des Vizekönigs fast bis zu den Befugnissen eines unabhängigen Souveräns er¬
weitert worden; selbstverständlich zum entschiedenen Nachtheil der Pforte, die dadurch den
Haupttheil der ihr auf die Nillande verbliebenen suzeräncn Ansprüche freiwillig preis¬
gegeben hatte.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/100>, abgerufen am 27.11.2024.