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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Annahme aus, daß derselbe zu ihr verpflichtet sei. In der letzteren Auffassung
erblickt man gern eine hohe Konsequenz des Rechtsstaatsprinzips und verweist
wohl auch auf die berühmten Kämpfe, die in England zwischen den Gerichten
und den politischen Gewalten stattfanden, sowie auf die Unabhängigkeit des
nordamerikanischen Richters, der an kein Gesetz gebunden ist, das er für ver¬
fassungswidrig hält (der aber in Wirklichkeit von der herrschenden Partei ab¬
hängt.) Man empfindet dabei zunächst ein gewisses doktrinäres Behagen, daß
man die Rechtsstaatstheorie möglichst vollendet durchführen kann, sodann aber
folgt man offen oder insgeheim dem Wunsche, in den Gerichten eine für alle
Fälle ausreichende Hilfe gegen jeden Versuch einer Verfassungsverletzung zu
gewinnen. Diese Auffassung ist aber eine utopische. Mit der Verfassungs¬
mäßigkeit der Richter allein ist nicht durchzukommen, die Verwaltungsbehörden
sind nicht zu entbehren, auch durch das Prüfungsrecht der Richter nicht vollständig
abhängig zu machen, und man ist sich bis heute noch nicht klar darüber ge¬
worden, daß die Frage, welche Erlasse der Staatsgewalt ein Beamter in einem
konstitutionellen Staate zu vollziehen berechtigt und verpflichtet sei, ganz anders
zu beantworten ist, wenn der Staat eine wahre Monarchie darstellt, als wenn
er auf der Theorie der Gewaltentheilung beruht.

Die Streitfrage zerfällt eigentlich in zwei Fragen: 1.) Hat der Richter zu
untersuchen, ob eine Norm, um deren Vollziehung es sich handelt, in vollzieh¬
barer Form veröffentlicht worden, ob diese Publikation echt und ob sie in
keiner Hinsicht formell falsch ist? 2.) Hat derselbe zu prüfen, ob die formell
echte Publikation auch dem Gegenstande derselben nach der bestehenden Ver¬
fassung entspricht?

Die erste Frage wird von Held unbedingt bejaht. "Eine Norm," sagt er,
"welche weder vom Minister unterzeichnet, noch, wo eine besondere Promnl-
gationsformel für die Verkündigung der Gesetze vorgeschrieben ist, mit dieser
versehen erscheint, kann kein Beamter vollziehen. Thut er es doch, so handelt
er pflichtwidrig. Natürlich hat er sich auch davon zu überzeugen, daß die
formell richtige Publikation echt ist, die Kontrasignatur also vom Minister her¬
rührt, und die Promulgationsformel dem wirklichen Zustandekommen des Ge¬
setzes entspricht."

In Betreff der andern Frage macht es einen großen Unterschied, ob sie
in politisch klaren oder getrübten Zeiten praktisch wird, und ob die Natur des
Gegenstandes, der auf dem Verordnungs- oder dem Gesetzgebungswege normirt
worden ist, als Gegenstand der Gesetzgebung Zweifeln unterliegt oder nicht.
Die Einsicht, daß der Staat in Lagen kommen kann, wo die Anwendung der
gewöhnlichen konstitutionellen Gesetzgebungsformen unmöglich oder nur zum
Schaden des Staates möglich, ein Gesetz aber dennoch nöthig wäre, hat dazu


Annahme aus, daß derselbe zu ihr verpflichtet sei. In der letzteren Auffassung
erblickt man gern eine hohe Konsequenz des Rechtsstaatsprinzips und verweist
wohl auch auf die berühmten Kämpfe, die in England zwischen den Gerichten
und den politischen Gewalten stattfanden, sowie auf die Unabhängigkeit des
nordamerikanischen Richters, der an kein Gesetz gebunden ist, das er für ver¬
fassungswidrig hält (der aber in Wirklichkeit von der herrschenden Partei ab¬
hängt.) Man empfindet dabei zunächst ein gewisses doktrinäres Behagen, daß
man die Rechtsstaatstheorie möglichst vollendet durchführen kann, sodann aber
folgt man offen oder insgeheim dem Wunsche, in den Gerichten eine für alle
Fälle ausreichende Hilfe gegen jeden Versuch einer Verfassungsverletzung zu
gewinnen. Diese Auffassung ist aber eine utopische. Mit der Verfassungs¬
mäßigkeit der Richter allein ist nicht durchzukommen, die Verwaltungsbehörden
sind nicht zu entbehren, auch durch das Prüfungsrecht der Richter nicht vollständig
abhängig zu machen, und man ist sich bis heute noch nicht klar darüber ge¬
worden, daß die Frage, welche Erlasse der Staatsgewalt ein Beamter in einem
konstitutionellen Staate zu vollziehen berechtigt und verpflichtet sei, ganz anders
zu beantworten ist, wenn der Staat eine wahre Monarchie darstellt, als wenn
er auf der Theorie der Gewaltentheilung beruht.

Die Streitfrage zerfällt eigentlich in zwei Fragen: 1.) Hat der Richter zu
untersuchen, ob eine Norm, um deren Vollziehung es sich handelt, in vollzieh¬
barer Form veröffentlicht worden, ob diese Publikation echt und ob sie in
keiner Hinsicht formell falsch ist? 2.) Hat derselbe zu prüfen, ob die formell
echte Publikation auch dem Gegenstande derselben nach der bestehenden Ver¬
fassung entspricht?

Die erste Frage wird von Held unbedingt bejaht. „Eine Norm," sagt er,
„welche weder vom Minister unterzeichnet, noch, wo eine besondere Promnl-
gationsformel für die Verkündigung der Gesetze vorgeschrieben ist, mit dieser
versehen erscheint, kann kein Beamter vollziehen. Thut er es doch, so handelt
er pflichtwidrig. Natürlich hat er sich auch davon zu überzeugen, daß die
formell richtige Publikation echt ist, die Kontrasignatur also vom Minister her¬
rührt, und die Promulgationsformel dem wirklichen Zustandekommen des Ge¬
setzes entspricht."

In Betreff der andern Frage macht es einen großen Unterschied, ob sie
in politisch klaren oder getrübten Zeiten praktisch wird, und ob die Natur des
Gegenstandes, der auf dem Verordnungs- oder dem Gesetzgebungswege normirt
worden ist, als Gegenstand der Gesetzgebung Zweifeln unterliegt oder nicht.
Die Einsicht, daß der Staat in Lagen kommen kann, wo die Anwendung der
gewöhnlichen konstitutionellen Gesetzgebungsformen unmöglich oder nur zum
Schaden des Staates möglich, ein Gesetz aber dennoch nöthig wäre, hat dazu


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[0092] Annahme aus, daß derselbe zu ihr verpflichtet sei. In der letzteren Auffassung erblickt man gern eine hohe Konsequenz des Rechtsstaatsprinzips und verweist wohl auch auf die berühmten Kämpfe, die in England zwischen den Gerichten und den politischen Gewalten stattfanden, sowie auf die Unabhängigkeit des nordamerikanischen Richters, der an kein Gesetz gebunden ist, das er für ver¬ fassungswidrig hält (der aber in Wirklichkeit von der herrschenden Partei ab¬ hängt.) Man empfindet dabei zunächst ein gewisses doktrinäres Behagen, daß man die Rechtsstaatstheorie möglichst vollendet durchführen kann, sodann aber folgt man offen oder insgeheim dem Wunsche, in den Gerichten eine für alle Fälle ausreichende Hilfe gegen jeden Versuch einer Verfassungsverletzung zu gewinnen. Diese Auffassung ist aber eine utopische. Mit der Verfassungs¬ mäßigkeit der Richter allein ist nicht durchzukommen, die Verwaltungsbehörden sind nicht zu entbehren, auch durch das Prüfungsrecht der Richter nicht vollständig abhängig zu machen, und man ist sich bis heute noch nicht klar darüber ge¬ worden, daß die Frage, welche Erlasse der Staatsgewalt ein Beamter in einem konstitutionellen Staate zu vollziehen berechtigt und verpflichtet sei, ganz anders zu beantworten ist, wenn der Staat eine wahre Monarchie darstellt, als wenn er auf der Theorie der Gewaltentheilung beruht. Die Streitfrage zerfällt eigentlich in zwei Fragen: 1.) Hat der Richter zu untersuchen, ob eine Norm, um deren Vollziehung es sich handelt, in vollzieh¬ barer Form veröffentlicht worden, ob diese Publikation echt und ob sie in keiner Hinsicht formell falsch ist? 2.) Hat derselbe zu prüfen, ob die formell echte Publikation auch dem Gegenstande derselben nach der bestehenden Ver¬ fassung entspricht? Die erste Frage wird von Held unbedingt bejaht. „Eine Norm," sagt er, „welche weder vom Minister unterzeichnet, noch, wo eine besondere Promnl- gationsformel für die Verkündigung der Gesetze vorgeschrieben ist, mit dieser versehen erscheint, kann kein Beamter vollziehen. Thut er es doch, so handelt er pflichtwidrig. Natürlich hat er sich auch davon zu überzeugen, daß die formell richtige Publikation echt ist, die Kontrasignatur also vom Minister her¬ rührt, und die Promulgationsformel dem wirklichen Zustandekommen des Ge¬ setzes entspricht." In Betreff der andern Frage macht es einen großen Unterschied, ob sie in politisch klaren oder getrübten Zeiten praktisch wird, und ob die Natur des Gegenstandes, der auf dem Verordnungs- oder dem Gesetzgebungswege normirt worden ist, als Gegenstand der Gesetzgebung Zweifeln unterliegt oder nicht. Die Einsicht, daß der Staat in Lagen kommen kann, wo die Anwendung der gewöhnlichen konstitutionellen Gesetzgebungsformen unmöglich oder nur zum Schaden des Staates möglich, ein Gesetz aber dennoch nöthig wäre, hat dazu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/92>, abgerufen am 28.09.2024.