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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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gnug konnten bei denkenden Menschen Erfindungen wie die vom König Friso
beanspruchen, der 303 v. Chr., vom Indus herkommend, an der Nordsee ein
Reich gegründet haben sollte, oder die vom Ursprung der Freimaurerei beim
Bau des Salomonischen Tempels oder gar bei Errichtung der Pyramiden, und
von einer Fortpflanzung der Lehren und Bräuche dieses Geheimbundes durch
die griechischen Mysterien und die mittelalterlichen Tempelritter.

Glaubhafter konnte einer Zeit, die wenig geschichtlichen Sinn besaß und
in der Exegese noch nicht so weit gekommen war, wie die gegenwärtige, man¬
cherlei Anderes erscheinen. Sie konnte meinen, daß Abraham und die übrigen
Erzväter der Jsraeliten, abgesehen von den Wundern in ihrem Leben, wirkliche
Menschen gewesen seien, während wir jetzt wissen, daß sie rein mythische Heroen
oder, noch wahrscheinlicher, Götter der hebräischen Urzeit waren. Jene alte
Zeit konnte ferner die Erzählung von Judith, die den Holofernes erschlägt, für
Geschichte und den Bericht vom frommen Tobias mit Abrechnung einiger
Mirakel für die Biographie eines gottesfürchtigen Juden halten, der während
des babylonischen Exils gelebt. Jetzt wissen wir, daß das Buch Judith ein
Patriotischer Roman und daß das Buch Tobiä gleichermaßen ein Erzeugniß
wohlmeinender Tendenz ist. Jene Zeit konnte endlich, um noch eins anzu¬
führen, unbedenklich annehmen, daß die Anekdoten, die Plutarch von feinen
Helden erzählt, auf Wahrheit beruhen, und daß die langen, fchöngedrechselten
Reden voll Schwung und Weisheit, die Livius seinen Feldherren und Staats¬
männern in den Mund legt, wirklich von ihnen gehalten worden seien. Nichts¬
destoweniger aber sind jene Anekdoten offenbar zum großen Theil und diese
Reden sammt und sonders im Wesentlichen Kunstprodukte.

Lange Zeit hat sich unsere studirende Jugend an Harmodios und Aristo-
geiton begeistert, die "im Myrthenzweige das Schwert trugen und den Tyrannen
erschlugen, um Athen wieder unter die Herrschaft gerechter Gesetze zu bringen".
Wie wir aber jetzt und schon seit geraumer Zeit wisse", hatten die Tyrannen¬
mörder zwar bei den Panathenäen des Jahres 514 unter den festlichen
Myrthenzweigen, die sie trugen, Schwerter verborgen, haben auch den Tyrannen
Hipparch umgebracht; der Beweggrund ihrer That war aber nichts weniger
als politischer Natur, sondern Eifersucht bei Aristogeiton und beleidigte Fami-
lienehre bei Harmodios, und die Ermordung des Tyrannen hatte keineswegs
unmittelbar die Wiederherstellung der altgesetzlichen Zustünde im attischen
Staate zur Folge. Der Mord war ein Akt der Rache für eine zugefügte
Beleidigung und zugleich ein Ausfluß der Furcht, daß noch andere Beleidi¬
gungen folgen würden; ideale Motive wirkten dabei in keiner Weise mit. Der
eine Mörder fiel bei der That unter den Streichen der Leibwache, der andere
wurde von dem Bruder des Tyrannen dem Scharfrichter übergeben, und statt


gnug konnten bei denkenden Menschen Erfindungen wie die vom König Friso
beanspruchen, der 303 v. Chr., vom Indus herkommend, an der Nordsee ein
Reich gegründet haben sollte, oder die vom Ursprung der Freimaurerei beim
Bau des Salomonischen Tempels oder gar bei Errichtung der Pyramiden, und
von einer Fortpflanzung der Lehren und Bräuche dieses Geheimbundes durch
die griechischen Mysterien und die mittelalterlichen Tempelritter.

Glaubhafter konnte einer Zeit, die wenig geschichtlichen Sinn besaß und
in der Exegese noch nicht so weit gekommen war, wie die gegenwärtige, man¬
cherlei Anderes erscheinen. Sie konnte meinen, daß Abraham und die übrigen
Erzväter der Jsraeliten, abgesehen von den Wundern in ihrem Leben, wirkliche
Menschen gewesen seien, während wir jetzt wissen, daß sie rein mythische Heroen
oder, noch wahrscheinlicher, Götter der hebräischen Urzeit waren. Jene alte
Zeit konnte ferner die Erzählung von Judith, die den Holofernes erschlägt, für
Geschichte und den Bericht vom frommen Tobias mit Abrechnung einiger
Mirakel für die Biographie eines gottesfürchtigen Juden halten, der während
des babylonischen Exils gelebt. Jetzt wissen wir, daß das Buch Judith ein
Patriotischer Roman und daß das Buch Tobiä gleichermaßen ein Erzeugniß
wohlmeinender Tendenz ist. Jene Zeit konnte endlich, um noch eins anzu¬
führen, unbedenklich annehmen, daß die Anekdoten, die Plutarch von feinen
Helden erzählt, auf Wahrheit beruhen, und daß die langen, fchöngedrechselten
Reden voll Schwung und Weisheit, die Livius seinen Feldherren und Staats¬
männern in den Mund legt, wirklich von ihnen gehalten worden seien. Nichts¬
destoweniger aber sind jene Anekdoten offenbar zum großen Theil und diese
Reden sammt und sonders im Wesentlichen Kunstprodukte.

Lange Zeit hat sich unsere studirende Jugend an Harmodios und Aristo-
geiton begeistert, die „im Myrthenzweige das Schwert trugen und den Tyrannen
erschlugen, um Athen wieder unter die Herrschaft gerechter Gesetze zu bringen".
Wie wir aber jetzt und schon seit geraumer Zeit wisse», hatten die Tyrannen¬
mörder zwar bei den Panathenäen des Jahres 514 unter den festlichen
Myrthenzweigen, die sie trugen, Schwerter verborgen, haben auch den Tyrannen
Hipparch umgebracht; der Beweggrund ihrer That war aber nichts weniger
als politischer Natur, sondern Eifersucht bei Aristogeiton und beleidigte Fami-
lienehre bei Harmodios, und die Ermordung des Tyrannen hatte keineswegs
unmittelbar die Wiederherstellung der altgesetzlichen Zustünde im attischen
Staate zur Folge. Der Mord war ein Akt der Rache für eine zugefügte
Beleidigung und zugleich ein Ausfluß der Furcht, daß noch andere Beleidi¬
gungen folgen würden; ideale Motive wirkten dabei in keiner Weise mit. Der
eine Mörder fiel bei der That unter den Streichen der Leibwache, der andere
wurde von dem Bruder des Tyrannen dem Scharfrichter übergeben, und statt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/75>, abgerufen am 28.09.2024.