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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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andere Irrthum war der, daß man die älteste Zeit als die vollkommenste an¬
sah, daß man an eine altorientalische und ägyptische Urweisheit glaubte, von
der hinweg es mit der Menschheit bergab gegangen sei, und daß man so den
ganzen Charakter und das Wesen der Geschichte verkannte, die doch nichts
Anderes als eine Entwickelung des Menschengeschlechts aus der Einfachheit
zur Mannichfaltigkeit, zur Ausprägung aller in dasselbe gelegten Fähigkeiten
des Denkens, Empfindens und Genießens ist -- eine Entwickelung, welche sich
im Einzelnen zwar nicht in gerader Linie, sondern spiralförmig, mit scheinbaren
Unterbrechungen und Rückschritten, im Großen und Ganzen aber doch stetig
vollzieht.

Gewisse Mythen, Sagen und Legenden, in denen Wunder, Erscheinungen
von Göttern, heiligen und übermenschlich gestalteten und begabten Heroen, Ge¬
spenster und andere Naturwidrigkeiten eine Hauptrolle spielen, hatte die moderne
Geschichtschreibung nicht zu bekämpfen; denn sie charakterisirten sich von selbst vor
dem Blicke des Verständigen von vornherein als Unmöglichkeiten. Kein Mensch
von Urtheil wird im neunzehnten Jahrhundert die Mythen, welche die Grün¬
dung Athen's und Rom's umspinnen, die Thaten des Herakles, den Argonau¬
tenzug, die Kämpfe vor Ilion, die Fahrt des Aeneas von Troia nach der
Tibermündung, den Sprung des Curtius, die Erzählung vom Ringe des Polykrates
und Aehnliches im Ernst für geschichtlich gehalten haben. Gleiches ist ferner von
gewissen Mythen der hebräischen Urzeit, von dem Besuche Gottes bei Abraham,
von Lot's Weib, das sich in eine Salzsäule verwandelte, vom Ringen Jakob's
mit dem Herrn, wobei jenem die Hüfte ausgerenkt wurde, von Simson, der
Hunderte von Philistern mit einem Eselskinnbacken erschlug, und von Elias,
der Feuer auf die Baalspriester herabflehte, anzunehmen. Dasselbe gilt endlich
von einer Anzahl Mythen, die von nordischen Chronisten und Geschichtschrei¬
bern, Jornandes, Paulus Diaconus, Saxo Grammaticus u. a., in ihre Berichte
verflochten worden sind, und von allen christlichen, mohammedanischen und
buddhistischen Legenden, soweit sie mit der Natur im Widerspruche stehen.

Aber auch andere Angaben, solche, die sich zwar mit den Naturgesetzen
vereinigen ließen, sich aber aus inneren Gründen sofort als äußerst unwahr¬
scheinlich kennzeichneten, waren nicht erst als Unmöglichkeiten zu charakterisiren.
Nur eine Geschichtsbehandlung, welche das Gegentheil von dem war, was sie
hätte sein sollen, konnte die Franken von den Trojanern, die Bewohner der
schweizerischen Urkantone von Skandinaviern oder Niedersachsen, das jetzt regie¬
rende sächsische Königshaus von Wittekind, dem Stammhäuptling der Sachsen
des Wesergebietes, abstammen lassen oder, wie von nicht wenigen Engländern
und Jankees noch heute geglaubt wird, behaupten, Amerika sei von den ver¬
lorenen zehn Stämmen Israel's bevölkert worden. Ebensowenig Berücksichti-


andere Irrthum war der, daß man die älteste Zeit als die vollkommenste an¬
sah, daß man an eine altorientalische und ägyptische Urweisheit glaubte, von
der hinweg es mit der Menschheit bergab gegangen sei, und daß man so den
ganzen Charakter und das Wesen der Geschichte verkannte, die doch nichts
Anderes als eine Entwickelung des Menschengeschlechts aus der Einfachheit
zur Mannichfaltigkeit, zur Ausprägung aller in dasselbe gelegten Fähigkeiten
des Denkens, Empfindens und Genießens ist — eine Entwickelung, welche sich
im Einzelnen zwar nicht in gerader Linie, sondern spiralförmig, mit scheinbaren
Unterbrechungen und Rückschritten, im Großen und Ganzen aber doch stetig
vollzieht.

Gewisse Mythen, Sagen und Legenden, in denen Wunder, Erscheinungen
von Göttern, heiligen und übermenschlich gestalteten und begabten Heroen, Ge¬
spenster und andere Naturwidrigkeiten eine Hauptrolle spielen, hatte die moderne
Geschichtschreibung nicht zu bekämpfen; denn sie charakterisirten sich von selbst vor
dem Blicke des Verständigen von vornherein als Unmöglichkeiten. Kein Mensch
von Urtheil wird im neunzehnten Jahrhundert die Mythen, welche die Grün¬
dung Athen's und Rom's umspinnen, die Thaten des Herakles, den Argonau¬
tenzug, die Kämpfe vor Ilion, die Fahrt des Aeneas von Troia nach der
Tibermündung, den Sprung des Curtius, die Erzählung vom Ringe des Polykrates
und Aehnliches im Ernst für geschichtlich gehalten haben. Gleiches ist ferner von
gewissen Mythen der hebräischen Urzeit, von dem Besuche Gottes bei Abraham,
von Lot's Weib, das sich in eine Salzsäule verwandelte, vom Ringen Jakob's
mit dem Herrn, wobei jenem die Hüfte ausgerenkt wurde, von Simson, der
Hunderte von Philistern mit einem Eselskinnbacken erschlug, und von Elias,
der Feuer auf die Baalspriester herabflehte, anzunehmen. Dasselbe gilt endlich
von einer Anzahl Mythen, die von nordischen Chronisten und Geschichtschrei¬
bern, Jornandes, Paulus Diaconus, Saxo Grammaticus u. a., in ihre Berichte
verflochten worden sind, und von allen christlichen, mohammedanischen und
buddhistischen Legenden, soweit sie mit der Natur im Widerspruche stehen.

Aber auch andere Angaben, solche, die sich zwar mit den Naturgesetzen
vereinigen ließen, sich aber aus inneren Gründen sofort als äußerst unwahr¬
scheinlich kennzeichneten, waren nicht erst als Unmöglichkeiten zu charakterisiren.
Nur eine Geschichtsbehandlung, welche das Gegentheil von dem war, was sie
hätte sein sollen, konnte die Franken von den Trojanern, die Bewohner der
schweizerischen Urkantone von Skandinaviern oder Niedersachsen, das jetzt regie¬
rende sächsische Königshaus von Wittekind, dem Stammhäuptling der Sachsen
des Wesergebietes, abstammen lassen oder, wie von nicht wenigen Engländern
und Jankees noch heute geglaubt wird, behaupten, Amerika sei von den ver¬
lorenen zehn Stämmen Israel's bevölkert worden. Ebensowenig Berücksichti-


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[0074] andere Irrthum war der, daß man die älteste Zeit als die vollkommenste an¬ sah, daß man an eine altorientalische und ägyptische Urweisheit glaubte, von der hinweg es mit der Menschheit bergab gegangen sei, und daß man so den ganzen Charakter und das Wesen der Geschichte verkannte, die doch nichts Anderes als eine Entwickelung des Menschengeschlechts aus der Einfachheit zur Mannichfaltigkeit, zur Ausprägung aller in dasselbe gelegten Fähigkeiten des Denkens, Empfindens und Genießens ist — eine Entwickelung, welche sich im Einzelnen zwar nicht in gerader Linie, sondern spiralförmig, mit scheinbaren Unterbrechungen und Rückschritten, im Großen und Ganzen aber doch stetig vollzieht. Gewisse Mythen, Sagen und Legenden, in denen Wunder, Erscheinungen von Göttern, heiligen und übermenschlich gestalteten und begabten Heroen, Ge¬ spenster und andere Naturwidrigkeiten eine Hauptrolle spielen, hatte die moderne Geschichtschreibung nicht zu bekämpfen; denn sie charakterisirten sich von selbst vor dem Blicke des Verständigen von vornherein als Unmöglichkeiten. Kein Mensch von Urtheil wird im neunzehnten Jahrhundert die Mythen, welche die Grün¬ dung Athen's und Rom's umspinnen, die Thaten des Herakles, den Argonau¬ tenzug, die Kämpfe vor Ilion, die Fahrt des Aeneas von Troia nach der Tibermündung, den Sprung des Curtius, die Erzählung vom Ringe des Polykrates und Aehnliches im Ernst für geschichtlich gehalten haben. Gleiches ist ferner von gewissen Mythen der hebräischen Urzeit, von dem Besuche Gottes bei Abraham, von Lot's Weib, das sich in eine Salzsäule verwandelte, vom Ringen Jakob's mit dem Herrn, wobei jenem die Hüfte ausgerenkt wurde, von Simson, der Hunderte von Philistern mit einem Eselskinnbacken erschlug, und von Elias, der Feuer auf die Baalspriester herabflehte, anzunehmen. Dasselbe gilt endlich von einer Anzahl Mythen, die von nordischen Chronisten und Geschichtschrei¬ bern, Jornandes, Paulus Diaconus, Saxo Grammaticus u. a., in ihre Berichte verflochten worden sind, und von allen christlichen, mohammedanischen und buddhistischen Legenden, soweit sie mit der Natur im Widerspruche stehen. Aber auch andere Angaben, solche, die sich zwar mit den Naturgesetzen vereinigen ließen, sich aber aus inneren Gründen sofort als äußerst unwahr¬ scheinlich kennzeichneten, waren nicht erst als Unmöglichkeiten zu charakterisiren. Nur eine Geschichtsbehandlung, welche das Gegentheil von dem war, was sie hätte sein sollen, konnte die Franken von den Trojanern, die Bewohner der schweizerischen Urkantone von Skandinaviern oder Niedersachsen, das jetzt regie¬ rende sächsische Königshaus von Wittekind, dem Stammhäuptling der Sachsen des Wesergebietes, abstammen lassen oder, wie von nicht wenigen Engländern und Jankees noch heute geglaubt wird, behaupten, Amerika sei von den ver¬ lorenen zehn Stämmen Israel's bevölkert worden. Ebensowenig Berücksichti-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/74>, abgerufen am 28.09.2024.