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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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fast in allen Beziehungen zu wenig entschlossen und zu nachgiebig, wenn es
den Zumuthungen der Radikalen entgegenzutreten galt. Die von ihnen ver¬
fügten Entlassungen und Versetzungen gingen weit über das hinaus, was
Dufaure und seine Kollegen dem Marschall Mac Mahon angesonnen hatten.
Diese hatten nur drei oder vier Korpskommandanten und sechs oder sieben
Generalprokuratoren beseitigen wollen, und jetzt wurden zehn Korpskomman¬
danten kaltgestellt und mehr als ein Dutzend Generalprokuratoren pensionirt
oder versetzt -- eine politische Abschlachtung, die ganz nach dem System des
Kaiserreichs vom 2. Dezember vorgenommen wurde, und die überdies insofern
unklug war, als sie auf die Armee einen verstimmenden Eindruck machen mußte.
Die umfangreiche Ausmerzung war, wie sie in den Kreisen der Zivilbeamten
einer Anzahl von Stellenjägern unter den Republikanern an das ersehnte Ziel
verhalf, dort einigen jüngeren Offizieren förderlich, aber sie entfremdete der
Republik den Kern der Armee, die alten kaiserlichen Offiziere, die ihr ohnehin
wenig zugethan waren, und ließ unter ihnen ein Gefühl der Unsicherheit ent¬
stehen, das von den Gegnern der jetzigen Staatsordnung seiner Zeit zu ihren
Zwecken ausgebeutet werden wird.

In der Amnestiefrage behielt die Regierung die Oberhand, aber lediglich
durch ein Kompromiß, indem sie im Wesentlichen die Forderungen der Linken
adoptirte. Nur in der Sache, die nächstdem das Kabinet und die Kammern
vorzüglich beschäftigte, nur in Betreff der von den Radikalen beantragten An¬
klage der Minister vom 16. Mai Und ihrer unmittelbaren Nachfolger blieben
die am Ruder stehenden gemäßigten Republikaner vollkommen fest, und die
Majorität der Landesvertretung stimmte in ihrem Sinne und in dem der
Billigkeit. Denn abgesehen von Anderem, was gegen die Anklage sprach, wäre
eine Verfolgung der obersten Räthe des ExPräsidenten nach Begnadigung der
Kommunards als ein Tendenzprozeß und eine ungeheuerliche Intoleranz er¬
scheinen. Broglie, Fourtou und Decazes hatten zwar als Minister der Repu¬
blik nur die alleräußersten Mittel unversucht gelassen, dieselbe zu stürzen, und
sie hatten durch Aufnahme der offiziellen Kandidaturen unter ihre Angriffs¬
und Vertheidigungswaffen zur Korrumpirung der politischen Moral im Lande
wesentlich beigetragen, Sie waren aber bei alledem kaum über die Grenzen
der Gesetzlichkeit hinausgegangen, und mit den Kommunisten von 1871, deren
Greuelthaten jetzt vergessen sein sollten, waren sie nicht entfernt auf eine Linie
zu stellen.

Verhängnißvoll wieder ist unsrer Meinung nach, daß die Regierung Grevy's
sich herbeiließ, das Verlangen der Radikalen nach Zurückverlegung des Sitzes
der Kammern von Versailles nach Paris zu befürworten, sodaß der Senat,
der anfangs dagegen opponirte, der Maßregel jetzt voraussichtlich zustimmen


fast in allen Beziehungen zu wenig entschlossen und zu nachgiebig, wenn es
den Zumuthungen der Radikalen entgegenzutreten galt. Die von ihnen ver¬
fügten Entlassungen und Versetzungen gingen weit über das hinaus, was
Dufaure und seine Kollegen dem Marschall Mac Mahon angesonnen hatten.
Diese hatten nur drei oder vier Korpskommandanten und sechs oder sieben
Generalprokuratoren beseitigen wollen, und jetzt wurden zehn Korpskomman¬
danten kaltgestellt und mehr als ein Dutzend Generalprokuratoren pensionirt
oder versetzt — eine politische Abschlachtung, die ganz nach dem System des
Kaiserreichs vom 2. Dezember vorgenommen wurde, und die überdies insofern
unklug war, als sie auf die Armee einen verstimmenden Eindruck machen mußte.
Die umfangreiche Ausmerzung war, wie sie in den Kreisen der Zivilbeamten
einer Anzahl von Stellenjägern unter den Republikanern an das ersehnte Ziel
verhalf, dort einigen jüngeren Offizieren förderlich, aber sie entfremdete der
Republik den Kern der Armee, die alten kaiserlichen Offiziere, die ihr ohnehin
wenig zugethan waren, und ließ unter ihnen ein Gefühl der Unsicherheit ent¬
stehen, das von den Gegnern der jetzigen Staatsordnung seiner Zeit zu ihren
Zwecken ausgebeutet werden wird.

In der Amnestiefrage behielt die Regierung die Oberhand, aber lediglich
durch ein Kompromiß, indem sie im Wesentlichen die Forderungen der Linken
adoptirte. Nur in der Sache, die nächstdem das Kabinet und die Kammern
vorzüglich beschäftigte, nur in Betreff der von den Radikalen beantragten An¬
klage der Minister vom 16. Mai Und ihrer unmittelbaren Nachfolger blieben
die am Ruder stehenden gemäßigten Republikaner vollkommen fest, und die
Majorität der Landesvertretung stimmte in ihrem Sinne und in dem der
Billigkeit. Denn abgesehen von Anderem, was gegen die Anklage sprach, wäre
eine Verfolgung der obersten Räthe des ExPräsidenten nach Begnadigung der
Kommunards als ein Tendenzprozeß und eine ungeheuerliche Intoleranz er¬
scheinen. Broglie, Fourtou und Decazes hatten zwar als Minister der Repu¬
blik nur die alleräußersten Mittel unversucht gelassen, dieselbe zu stürzen, und
sie hatten durch Aufnahme der offiziellen Kandidaturen unter ihre Angriffs¬
und Vertheidigungswaffen zur Korrumpirung der politischen Moral im Lande
wesentlich beigetragen, Sie waren aber bei alledem kaum über die Grenzen
der Gesetzlichkeit hinausgegangen, und mit den Kommunisten von 1871, deren
Greuelthaten jetzt vergessen sein sollten, waren sie nicht entfernt auf eine Linie
zu stellen.

Verhängnißvoll wieder ist unsrer Meinung nach, daß die Regierung Grevy's
sich herbeiließ, das Verlangen der Radikalen nach Zurückverlegung des Sitzes
der Kammern von Versailles nach Paris zu befürworten, sodaß der Senat,
der anfangs dagegen opponirte, der Maßregel jetzt voraussichtlich zustimmen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/491>, abgerufen am 27.09.2024.