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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Angelegenheit in das rechte Licht gerückt hat. Nur Temauza, ein Architekt des
vorigen Jahrhunderts, der eine Anzahl sehr verdienstvoller und reichhaltiger
Biographieen voll venetianischen Architekten und Bildhauern des 16. Jahr¬
hunderts verfaßt hat, deutet den wahren Charakter der ganzen Geschichte mit
einigen Worten all.

Die Fayade der Libreria besteht aus zwei Stockwerken. Das untere Ge¬
schoß, das sich nach der Piazetta zu in 21 Bogenstellungen ebenso wie das
obere öffnet, ist dorischer Ordnung, während das Säulensystem des Ober¬
geschosses ein ionisches ist. Die Schmalseite nach der Pescheria, der Lagune,
zu, hat nur drei Bogenstellungen und stößt an die Zeeea. Sansovino schlug
nun den Vitruv auf, den er wie die meisten Architekten der Hochrenaissance
als seinen obersten Lehrmeister betrachtete, und fand darin eine Stelle, aus der
er herauslesen wollte, daß an der Ecke des Gebäudes, dort, wo der dorische
Metopen- und Triglyphenfries von der Piazetta nach der Pescheria umbiegt,
genau auf jeder Seite eine halbe Metope stehen müsse. Indem er dabei den von
Vitruv gemachten Zusatz übersah, nach welchem die beiden Hälften nicht so
strikt einzuhalten seien, legte er sich selbst eine Schwierigkeit in den Weg, deren
Ueberwindung er dann höchst geschickt zu einer öffentlichen Frage aufzubauschen
wußte. Wie ist diese halbe Metope aus jeder Seite zu erreichen? so lautete
die brennende Frage, zu deren Lösung Sansovino die Architekten und Vitruv-
gelehrten ganz Italien's aufforderte. Seine Freunde in Florenz und in Rom,
das sich inzwischen von den Verwüstungen des Jahres 1527 wieder etwas er¬
holt hatte, hatten lange von Sansovino's Arbeiten nichts gehört. Trotz seiner
politischen Machtstellung war Venedig bei weitem nicht in dein Grade ein
Zentralpnnkt wie Rom und Florenz. Wie heute lag es auch damals zu sehr
abseits von der großen Heerstraße. Jetzt hatte Sansovino einen Anlaß ge¬
funden, die Augen des ganzen gelehrten und künstlerischen Italien auf sich
zu lenken.

Im Jahre 1542 hatte sich in Rom eine vitruvianische Akademie konstituirt,
welche sich mit großem Eifer der Frage annahm. Claudia Tolomei, der
Sekretär dieser mit großem Pomp in's Leben gerufenen Körperschaft, sandte im
Namen derselben ein Gutachten ein, und ebensosehr interessirte sich der Kardinal
Pietro Bembo, wohl nicht ohne Zuthun Aretino's, für die Angelegenheit, welche
mehrere Jahre lang ganz Italien in Bewegung setzte. Ans Bembo's Veran¬
lassung schickten mehrere Architekten und Bauverständige aus Neapel, Rom,
Toskana und der Lombardei Zeichnungen nach Venedig. Aber darum war es
dem schlauen Sansovino gar nicht zu thun. Sein Hauptzweck, einmal in
großem Maßstabe von sich reden zu machen, war erreicht. Die Lösung hatte
er längst in xetto. Plötzlich produzirte er est Holzmodell, welches an der


Angelegenheit in das rechte Licht gerückt hat. Nur Temauza, ein Architekt des
vorigen Jahrhunderts, der eine Anzahl sehr verdienstvoller und reichhaltiger
Biographieen voll venetianischen Architekten und Bildhauern des 16. Jahr¬
hunderts verfaßt hat, deutet den wahren Charakter der ganzen Geschichte mit
einigen Worten all.

Die Fayade der Libreria besteht aus zwei Stockwerken. Das untere Ge¬
schoß, das sich nach der Piazetta zu in 21 Bogenstellungen ebenso wie das
obere öffnet, ist dorischer Ordnung, während das Säulensystem des Ober¬
geschosses ein ionisches ist. Die Schmalseite nach der Pescheria, der Lagune,
zu, hat nur drei Bogenstellungen und stößt an die Zeeea. Sansovino schlug
nun den Vitruv auf, den er wie die meisten Architekten der Hochrenaissance
als seinen obersten Lehrmeister betrachtete, und fand darin eine Stelle, aus der
er herauslesen wollte, daß an der Ecke des Gebäudes, dort, wo der dorische
Metopen- und Triglyphenfries von der Piazetta nach der Pescheria umbiegt,
genau auf jeder Seite eine halbe Metope stehen müsse. Indem er dabei den von
Vitruv gemachten Zusatz übersah, nach welchem die beiden Hälften nicht so
strikt einzuhalten seien, legte er sich selbst eine Schwierigkeit in den Weg, deren
Ueberwindung er dann höchst geschickt zu einer öffentlichen Frage aufzubauschen
wußte. Wie ist diese halbe Metope aus jeder Seite zu erreichen? so lautete
die brennende Frage, zu deren Lösung Sansovino die Architekten und Vitruv-
gelehrten ganz Italien's aufforderte. Seine Freunde in Florenz und in Rom,
das sich inzwischen von den Verwüstungen des Jahres 1527 wieder etwas er¬
holt hatte, hatten lange von Sansovino's Arbeiten nichts gehört. Trotz seiner
politischen Machtstellung war Venedig bei weitem nicht in dein Grade ein
Zentralpnnkt wie Rom und Florenz. Wie heute lag es auch damals zu sehr
abseits von der großen Heerstraße. Jetzt hatte Sansovino einen Anlaß ge¬
funden, die Augen des ganzen gelehrten und künstlerischen Italien auf sich
zu lenken.

Im Jahre 1542 hatte sich in Rom eine vitruvianische Akademie konstituirt,
welche sich mit großem Eifer der Frage annahm. Claudia Tolomei, der
Sekretär dieser mit großem Pomp in's Leben gerufenen Körperschaft, sandte im
Namen derselben ein Gutachten ein, und ebensosehr interessirte sich der Kardinal
Pietro Bembo, wohl nicht ohne Zuthun Aretino's, für die Angelegenheit, welche
mehrere Jahre lang ganz Italien in Bewegung setzte. Ans Bembo's Veran¬
lassung schickten mehrere Architekten und Bauverständige aus Neapel, Rom,
Toskana und der Lombardei Zeichnungen nach Venedig. Aber darum war es
dem schlauen Sansovino gar nicht zu thun. Sein Hauptzweck, einmal in
großem Maßstabe von sich reden zu machen, war erreicht. Die Lösung hatte
er längst in xetto. Plötzlich produzirte er est Holzmodell, welches an der


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[0472] Angelegenheit in das rechte Licht gerückt hat. Nur Temauza, ein Architekt des vorigen Jahrhunderts, der eine Anzahl sehr verdienstvoller und reichhaltiger Biographieen voll venetianischen Architekten und Bildhauern des 16. Jahr¬ hunderts verfaßt hat, deutet den wahren Charakter der ganzen Geschichte mit einigen Worten all. Die Fayade der Libreria besteht aus zwei Stockwerken. Das untere Ge¬ schoß, das sich nach der Piazetta zu in 21 Bogenstellungen ebenso wie das obere öffnet, ist dorischer Ordnung, während das Säulensystem des Ober¬ geschosses ein ionisches ist. Die Schmalseite nach der Pescheria, der Lagune, zu, hat nur drei Bogenstellungen und stößt an die Zeeea. Sansovino schlug nun den Vitruv auf, den er wie die meisten Architekten der Hochrenaissance als seinen obersten Lehrmeister betrachtete, und fand darin eine Stelle, aus der er herauslesen wollte, daß an der Ecke des Gebäudes, dort, wo der dorische Metopen- und Triglyphenfries von der Piazetta nach der Pescheria umbiegt, genau auf jeder Seite eine halbe Metope stehen müsse. Indem er dabei den von Vitruv gemachten Zusatz übersah, nach welchem die beiden Hälften nicht so strikt einzuhalten seien, legte er sich selbst eine Schwierigkeit in den Weg, deren Ueberwindung er dann höchst geschickt zu einer öffentlichen Frage aufzubauschen wußte. Wie ist diese halbe Metope aus jeder Seite zu erreichen? so lautete die brennende Frage, zu deren Lösung Sansovino die Architekten und Vitruv- gelehrten ganz Italien's aufforderte. Seine Freunde in Florenz und in Rom, das sich inzwischen von den Verwüstungen des Jahres 1527 wieder etwas er¬ holt hatte, hatten lange von Sansovino's Arbeiten nichts gehört. Trotz seiner politischen Machtstellung war Venedig bei weitem nicht in dein Grade ein Zentralpnnkt wie Rom und Florenz. Wie heute lag es auch damals zu sehr abseits von der großen Heerstraße. Jetzt hatte Sansovino einen Anlaß ge¬ funden, die Augen des ganzen gelehrten und künstlerischen Italien auf sich zu lenken. Im Jahre 1542 hatte sich in Rom eine vitruvianische Akademie konstituirt, welche sich mit großem Eifer der Frage annahm. Claudia Tolomei, der Sekretär dieser mit großem Pomp in's Leben gerufenen Körperschaft, sandte im Namen derselben ein Gutachten ein, und ebensosehr interessirte sich der Kardinal Pietro Bembo, wohl nicht ohne Zuthun Aretino's, für die Angelegenheit, welche mehrere Jahre lang ganz Italien in Bewegung setzte. Ans Bembo's Veran¬ lassung schickten mehrere Architekten und Bauverständige aus Neapel, Rom, Toskana und der Lombardei Zeichnungen nach Venedig. Aber darum war es dem schlauen Sansovino gar nicht zu thun. Sein Hauptzweck, einmal in großem Maßstabe von sich reden zu machen, war erreicht. Die Lösung hatte er längst in xetto. Plötzlich produzirte er est Holzmodell, welches an der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/472>, abgerufen am 20.10.2024.