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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Seele, das meistens unbewußt in Thätigkeit tritt, ist ein wesentliches Hilfs¬
mittel für die Erkenntniß der Außenwelt, aber es ist auch die Quelle häufiger
Sinnestäuschungen und die Ursache von Vorurtheilen und Aberglauben.

Die Dinge oder Kräfte der Außenwelt, kurz, die Welt als Gegensatz zu
unserer Seele ist für unser Bewußtsein nur die Ursache unserer Empfindungen
und Vorstellungen. Den bewußten Zustand unserer Seele, der durch die
Sinneseindrücke hervorgerufen wird, bezeichnen wir als Empfindung. Die
Empfindungen aber werden zu Vorstellungen, wenn wir jene auf die Außen¬
welt, als auf ihre Ursache beziehen. Die Vorstellungen, die in unserm Be¬
wußtsein von der Außenwelt entstehen, sind also das individuelle Produkt
unserer Seele; die Welt ist unsre Vorstellung, wir erkennen die Welt nur als
unsre Vorstellung.

Aber die Sinnes-Empfindungen, die mit Beziehung auf die Außenwelt
zu Vorstellungen in unsrer Seele werden, bilden nicht deren einzigen Inhalt.
Die meisten Empfindungen und Vorstellungen sind verbunden mit den Gefühlen
von Lust oder Unlust, beziehentlich von Freude oder Schmerz. Und wie gegen
den Sinneseindruck durch Apperzeption, fo reagirt die Seele gegen die Gefühle
von Lust und Unlust durch Bewegung. Das Organ dieser Reaktion der Seele
ist der Muskel. Mittels der sogenannten motorischen Nerven setzt die Seele
die willkürlichen Muskeln in Bewegung, welche unsern Körper den Dingen
der Außenwelt, die uns Lust bereiten, nähern oder diese Dinge mit unserm
Körper in Berührung bringen, und welche unsern Körper ^von den Dingen
oder diese von ihm entfernen, wenn sie Unlustgefühle in uns erregen. Die
Muskeln, welche der Mensch am häufigsten zur Reaktion gegen Lust- und
Unlustgefühle verwendet, sind die der Hand. Die Hand ist das Hauptorgan,
das Hauptwerkzeug, dessen sich der Mensch bedient, um Dinge zu erlangen, die
ihm Lust und Freude bereiten, und Dinge abzuwehren, die ihm Unlust und
Schmerz erregen.

Unter den Unlustgefühlen nimmt der Hunger die erste Stelle ein; die
größte Summe von Bewegung verwendet der Mensch auf dessen Abwehr durch
Erwerbung von Speise und Trank, die ihm das Lustgefühl der Sättigung und
Erregung angenehmer Geschmacksempfindung verschaffen. C. Rokitcmsky nannte
in einem Vortrage vor der Wiener Akademie der Wissenschaften") den Charakter
des Thieres einen aggressiven. "Dieser aggressive Charakter wurzelt im Hunger
des Protoplasma (des eiweißhaltigen Zelleninhaltes), welcher selbst seinen
Grund hat in der Labilität der thierischen Materie, vermöge welcher diese



*) "Die Solidarität alles Thierlebens." Wien, 1869. S. 19.

Seele, das meistens unbewußt in Thätigkeit tritt, ist ein wesentliches Hilfs¬
mittel für die Erkenntniß der Außenwelt, aber es ist auch die Quelle häufiger
Sinnestäuschungen und die Ursache von Vorurtheilen und Aberglauben.

Die Dinge oder Kräfte der Außenwelt, kurz, die Welt als Gegensatz zu
unserer Seele ist für unser Bewußtsein nur die Ursache unserer Empfindungen
und Vorstellungen. Den bewußten Zustand unserer Seele, der durch die
Sinneseindrücke hervorgerufen wird, bezeichnen wir als Empfindung. Die
Empfindungen aber werden zu Vorstellungen, wenn wir jene auf die Außen¬
welt, als auf ihre Ursache beziehen. Die Vorstellungen, die in unserm Be¬
wußtsein von der Außenwelt entstehen, sind also das individuelle Produkt
unserer Seele; die Welt ist unsre Vorstellung, wir erkennen die Welt nur als
unsre Vorstellung.

Aber die Sinnes-Empfindungen, die mit Beziehung auf die Außenwelt
zu Vorstellungen in unsrer Seele werden, bilden nicht deren einzigen Inhalt.
Die meisten Empfindungen und Vorstellungen sind verbunden mit den Gefühlen
von Lust oder Unlust, beziehentlich von Freude oder Schmerz. Und wie gegen
den Sinneseindruck durch Apperzeption, fo reagirt die Seele gegen die Gefühle
von Lust und Unlust durch Bewegung. Das Organ dieser Reaktion der Seele
ist der Muskel. Mittels der sogenannten motorischen Nerven setzt die Seele
die willkürlichen Muskeln in Bewegung, welche unsern Körper den Dingen
der Außenwelt, die uns Lust bereiten, nähern oder diese Dinge mit unserm
Körper in Berührung bringen, und welche unsern Körper ^von den Dingen
oder diese von ihm entfernen, wenn sie Unlustgefühle in uns erregen. Die
Muskeln, welche der Mensch am häufigsten zur Reaktion gegen Lust- und
Unlustgefühle verwendet, sind die der Hand. Die Hand ist das Hauptorgan,
das Hauptwerkzeug, dessen sich der Mensch bedient, um Dinge zu erlangen, die
ihm Lust und Freude bereiten, und Dinge abzuwehren, die ihm Unlust und
Schmerz erregen.

Unter den Unlustgefühlen nimmt der Hunger die erste Stelle ein; die
größte Summe von Bewegung verwendet der Mensch auf dessen Abwehr durch
Erwerbung von Speise und Trank, die ihm das Lustgefühl der Sättigung und
Erregung angenehmer Geschmacksempfindung verschaffen. C. Rokitcmsky nannte
in einem Vortrage vor der Wiener Akademie der Wissenschaften") den Charakter
des Thieres einen aggressiven. „Dieser aggressive Charakter wurzelt im Hunger
des Protoplasma (des eiweißhaltigen Zelleninhaltes), welcher selbst seinen
Grund hat in der Labilität der thierischen Materie, vermöge welcher diese



*) „Die Solidarität alles Thierlebens." Wien, 1869. S. 19.
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[0047] Seele, das meistens unbewußt in Thätigkeit tritt, ist ein wesentliches Hilfs¬ mittel für die Erkenntniß der Außenwelt, aber es ist auch die Quelle häufiger Sinnestäuschungen und die Ursache von Vorurtheilen und Aberglauben. Die Dinge oder Kräfte der Außenwelt, kurz, die Welt als Gegensatz zu unserer Seele ist für unser Bewußtsein nur die Ursache unserer Empfindungen und Vorstellungen. Den bewußten Zustand unserer Seele, der durch die Sinneseindrücke hervorgerufen wird, bezeichnen wir als Empfindung. Die Empfindungen aber werden zu Vorstellungen, wenn wir jene auf die Außen¬ welt, als auf ihre Ursache beziehen. Die Vorstellungen, die in unserm Be¬ wußtsein von der Außenwelt entstehen, sind also das individuelle Produkt unserer Seele; die Welt ist unsre Vorstellung, wir erkennen die Welt nur als unsre Vorstellung. Aber die Sinnes-Empfindungen, die mit Beziehung auf die Außenwelt zu Vorstellungen in unsrer Seele werden, bilden nicht deren einzigen Inhalt. Die meisten Empfindungen und Vorstellungen sind verbunden mit den Gefühlen von Lust oder Unlust, beziehentlich von Freude oder Schmerz. Und wie gegen den Sinneseindruck durch Apperzeption, fo reagirt die Seele gegen die Gefühle von Lust und Unlust durch Bewegung. Das Organ dieser Reaktion der Seele ist der Muskel. Mittels der sogenannten motorischen Nerven setzt die Seele die willkürlichen Muskeln in Bewegung, welche unsern Körper den Dingen der Außenwelt, die uns Lust bereiten, nähern oder diese Dinge mit unserm Körper in Berührung bringen, und welche unsern Körper ^von den Dingen oder diese von ihm entfernen, wenn sie Unlustgefühle in uns erregen. Die Muskeln, welche der Mensch am häufigsten zur Reaktion gegen Lust- und Unlustgefühle verwendet, sind die der Hand. Die Hand ist das Hauptorgan, das Hauptwerkzeug, dessen sich der Mensch bedient, um Dinge zu erlangen, die ihm Lust und Freude bereiten, und Dinge abzuwehren, die ihm Unlust und Schmerz erregen. Unter den Unlustgefühlen nimmt der Hunger die erste Stelle ein; die größte Summe von Bewegung verwendet der Mensch auf dessen Abwehr durch Erwerbung von Speise und Trank, die ihm das Lustgefühl der Sättigung und Erregung angenehmer Geschmacksempfindung verschaffen. C. Rokitcmsky nannte in einem Vortrage vor der Wiener Akademie der Wissenschaften") den Charakter des Thieres einen aggressiven. „Dieser aggressive Charakter wurzelt im Hunger des Protoplasma (des eiweißhaltigen Zelleninhaltes), welcher selbst seinen Grund hat in der Labilität der thierischen Materie, vermöge welcher diese *) „Die Solidarität alles Thierlebens." Wien, 1869. S. 19.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/47>, abgerufen am 27.09.2024.