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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Auch innere Nervenreize, welche die Folge von ungewöhnlicher Blutzusammen¬
setzung, von Kreislaufstörungen oder von Krankheit sind, erregen in uns die
spezifischen Sinnes-Empfindungen, je nachdem sie diesen oder jenen Sinnes¬
nerven treffen. '

Es wirkt also das sogenannte objektive Licht wie jeder andere den Seh¬
nerven treffende Reiz, objektiver Schall erzeugt Tonempfindung, so gut wie
jede andere Erregungsnrsache des Gehörnerven, und dasselbe gilt von den
äußeren und inneren Reizen der übrigen Sinnesnerven. Das Ange sieht nicht,
das Ohr hört nicht, die Haut fühlt nicht, die Zunge schmeckt nicht, die Nase
riecht nicht, sondern die Sinnesorgane sind nur Aufnahmeapparate für die als
Sinnesreize bezeichneten Erregungsursachen der Außenwelt. Die Reize treffen
in den Sinnesorganen die hier ausgebreiteten Zweige der Sinnesnerven, welche
wie ein Telegraphendraht sie fortleiten zu den Nervenzellen im mittleren Theile
des großen Gehirnes. Hier erst erregt der gereizte Sehnerv die Empfindung
von Licht und Farben, hier erst ruft der gereizte Homero die Empfindung
von Geräuschen und Tönen hervor, hier erst entsteht durch die Vermittelung
der gereizten Hautnerven die Empfindung von Hart und Weich, von Warm
und Kalt, hier erst bekommen wir durch den gereizten Geschmacknerven die
Empfindung von Süß und Sauer, von Bitter und Salzig, hier erst empfinden
wir mittels der gereizten Geruchnerven den Dust der Rose wie den Pesthauch
der Verwesung.

Doch nicht passiv empfängt die Seele die Sinneseindrücke, sie ist kein
bloßes Spiegelbild der Außenwelt, sondern sie reagirt gegen dieselbe; die Seele
perzipirt nicht blos, sondern sie cipperzipirt auch die Sinneseindrücke. Diese
Apperzeption der Seele besteht in der Reaktion ihrer früheren, im Gedächtniß
aufbewahrten Erfahrungen gegen die mittels der Sinnesnerven ihr zugeleiteten
Eindrücke der Außenwelt. Jede Sinneswahrnehmung setzt sich zusammen aus
Perzeption und Apperzeption, und die letztere ergänzt die erstere. Wenn wir
auf leichtem Kahne sanft stromabwärts gleiten, so sehen wir die Ufer in ent¬
gegengesetzter Richtung an uus vorübereilen, und wenn wir mit schwellenden
Segeln, den Hafen verlassend, in die See hinausfahren, so sehen wir das Land
langsam zurückweichen. Wir sehen es, dennoch glauben wir es nicht, weil wir
ans früherer Erfahrung wissen, daß das Ufer feststeht, und daß wir uus
bewegen. Wenn wir einen weißen zylindersörmigen Körper mit körnigem Ge-
füge vor uns sehen, so sagen wir -- ohne die Härte und den Geschmack des
Körpers zu erproben -- auf Grund des Zeugnisses unserer Gesichtswahrneh-
muug, es sei Salz. Die Apperzeption der Seele ergänzt in diesem Falle die¬
jenigen Eigenschaften des Salzes, die nur durch die Mitwirkung des Tahl- und
des Geschmacksorganes wahrnehmbar sind. Das Apperzeptionsvermögen der


Auch innere Nervenreize, welche die Folge von ungewöhnlicher Blutzusammen¬
setzung, von Kreislaufstörungen oder von Krankheit sind, erregen in uns die
spezifischen Sinnes-Empfindungen, je nachdem sie diesen oder jenen Sinnes¬
nerven treffen. '

Es wirkt also das sogenannte objektive Licht wie jeder andere den Seh¬
nerven treffende Reiz, objektiver Schall erzeugt Tonempfindung, so gut wie
jede andere Erregungsnrsache des Gehörnerven, und dasselbe gilt von den
äußeren und inneren Reizen der übrigen Sinnesnerven. Das Ange sieht nicht,
das Ohr hört nicht, die Haut fühlt nicht, die Zunge schmeckt nicht, die Nase
riecht nicht, sondern die Sinnesorgane sind nur Aufnahmeapparate für die als
Sinnesreize bezeichneten Erregungsursachen der Außenwelt. Die Reize treffen
in den Sinnesorganen die hier ausgebreiteten Zweige der Sinnesnerven, welche
wie ein Telegraphendraht sie fortleiten zu den Nervenzellen im mittleren Theile
des großen Gehirnes. Hier erst erregt der gereizte Sehnerv die Empfindung
von Licht und Farben, hier erst ruft der gereizte Homero die Empfindung
von Geräuschen und Tönen hervor, hier erst entsteht durch die Vermittelung
der gereizten Hautnerven die Empfindung von Hart und Weich, von Warm
und Kalt, hier erst bekommen wir durch den gereizten Geschmacknerven die
Empfindung von Süß und Sauer, von Bitter und Salzig, hier erst empfinden
wir mittels der gereizten Geruchnerven den Dust der Rose wie den Pesthauch
der Verwesung.

Doch nicht passiv empfängt die Seele die Sinneseindrücke, sie ist kein
bloßes Spiegelbild der Außenwelt, sondern sie reagirt gegen dieselbe; die Seele
perzipirt nicht blos, sondern sie cipperzipirt auch die Sinneseindrücke. Diese
Apperzeption der Seele besteht in der Reaktion ihrer früheren, im Gedächtniß
aufbewahrten Erfahrungen gegen die mittels der Sinnesnerven ihr zugeleiteten
Eindrücke der Außenwelt. Jede Sinneswahrnehmung setzt sich zusammen aus
Perzeption und Apperzeption, und die letztere ergänzt die erstere. Wenn wir
auf leichtem Kahne sanft stromabwärts gleiten, so sehen wir die Ufer in ent¬
gegengesetzter Richtung an uus vorübereilen, und wenn wir mit schwellenden
Segeln, den Hafen verlassend, in die See hinausfahren, so sehen wir das Land
langsam zurückweichen. Wir sehen es, dennoch glauben wir es nicht, weil wir
ans früherer Erfahrung wissen, daß das Ufer feststeht, und daß wir uus
bewegen. Wenn wir einen weißen zylindersörmigen Körper mit körnigem Ge-
füge vor uns sehen, so sagen wir — ohne die Härte und den Geschmack des
Körpers zu erproben — auf Grund des Zeugnisses unserer Gesichtswahrneh-
muug, es sei Salz. Die Apperzeption der Seele ergänzt in diesem Falle die¬
jenigen Eigenschaften des Salzes, die nur durch die Mitwirkung des Tahl- und
des Geschmacksorganes wahrnehmbar sind. Das Apperzeptionsvermögen der


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[0046] Auch innere Nervenreize, welche die Folge von ungewöhnlicher Blutzusammen¬ setzung, von Kreislaufstörungen oder von Krankheit sind, erregen in uns die spezifischen Sinnes-Empfindungen, je nachdem sie diesen oder jenen Sinnes¬ nerven treffen. ' Es wirkt also das sogenannte objektive Licht wie jeder andere den Seh¬ nerven treffende Reiz, objektiver Schall erzeugt Tonempfindung, so gut wie jede andere Erregungsnrsache des Gehörnerven, und dasselbe gilt von den äußeren und inneren Reizen der übrigen Sinnesnerven. Das Ange sieht nicht, das Ohr hört nicht, die Haut fühlt nicht, die Zunge schmeckt nicht, die Nase riecht nicht, sondern die Sinnesorgane sind nur Aufnahmeapparate für die als Sinnesreize bezeichneten Erregungsursachen der Außenwelt. Die Reize treffen in den Sinnesorganen die hier ausgebreiteten Zweige der Sinnesnerven, welche wie ein Telegraphendraht sie fortleiten zu den Nervenzellen im mittleren Theile des großen Gehirnes. Hier erst erregt der gereizte Sehnerv die Empfindung von Licht und Farben, hier erst ruft der gereizte Homero die Empfindung von Geräuschen und Tönen hervor, hier erst entsteht durch die Vermittelung der gereizten Hautnerven die Empfindung von Hart und Weich, von Warm und Kalt, hier erst bekommen wir durch den gereizten Geschmacknerven die Empfindung von Süß und Sauer, von Bitter und Salzig, hier erst empfinden wir mittels der gereizten Geruchnerven den Dust der Rose wie den Pesthauch der Verwesung. Doch nicht passiv empfängt die Seele die Sinneseindrücke, sie ist kein bloßes Spiegelbild der Außenwelt, sondern sie reagirt gegen dieselbe; die Seele perzipirt nicht blos, sondern sie cipperzipirt auch die Sinneseindrücke. Diese Apperzeption der Seele besteht in der Reaktion ihrer früheren, im Gedächtniß aufbewahrten Erfahrungen gegen die mittels der Sinnesnerven ihr zugeleiteten Eindrücke der Außenwelt. Jede Sinneswahrnehmung setzt sich zusammen aus Perzeption und Apperzeption, und die letztere ergänzt die erstere. Wenn wir auf leichtem Kahne sanft stromabwärts gleiten, so sehen wir die Ufer in ent¬ gegengesetzter Richtung an uus vorübereilen, und wenn wir mit schwellenden Segeln, den Hafen verlassend, in die See hinausfahren, so sehen wir das Land langsam zurückweichen. Wir sehen es, dennoch glauben wir es nicht, weil wir ans früherer Erfahrung wissen, daß das Ufer feststeht, und daß wir uus bewegen. Wenn wir einen weißen zylindersörmigen Körper mit körnigem Ge- füge vor uns sehen, so sagen wir — ohne die Härte und den Geschmack des Körpers zu erproben — auf Grund des Zeugnisses unserer Gesichtswahrneh- muug, es sei Salz. Die Apperzeption der Seele ergänzt in diesem Falle die¬ jenigen Eigenschaften des Salzes, die nur durch die Mitwirkung des Tahl- und des Geschmacksorganes wahrnehmbar sind. Das Apperzeptionsvermögen der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/46>, abgerufen am 27.09.2024.