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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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wollte, daß bei Verheiratungen die Reichen Aussteuer geben, aber nicht erhalten,
die Armen erhalten, aber nicht geben sollten, Hippodamos, ein Baumeister von
Milet, der um 450 nach Athen kam und für seine Straßenanlagen im Peirüeus
das Bürgerrecht erhielt, war, wie Aristoteles sagt, der erste Nicht-Staatsmann,
der es unternahm, etwas über die beste Verfassung zu sagen. Das herrschende
Prinzip in seinem Staatsanfbau, den er streng symmetrisch wie eine Stadt
oder ein Hans eingerichtet wissen wollte, war die Dreitheilung. Er gab ein
Schema an, nach welchem nicht blos die äußere Einrichtung der Stadt, sondern
auch die Gliederung der Stände, die Zahl der Bürger, die Art ihrer Beschäf¬
tigung u. s. w. streng zu regeln war -- also die Jdecilkaserne des sozialdemo¬
kratischen Zukunftsstaates. In Thurioi, wohin er sich etwa 440 begab, stand er
in Verbindung mit den Sophisten und Pythagoreern; an den Einfluß der
letzteren erinnert seine aristokratische Staatsgliederung und die geforderte Güter¬
gemeinschaft. Auch Lysander hinterließ eine Schrift, welche, durch Kleon von
Halikarnaß angefertigt, seine Ansichten über die in Sparta nothwendige Ver¬
fassungsänderung darlegte. Die Spartaner trugen Bedenken, sie bekannt werden
zu lassen, und wir wissen daher nur, daß er eine einheitliche Staatsgewalt
dadurch herstellen wollte, daß die Königswürde durch Vvlkswahl auf den tüch¬
tigsten Mann übertragen würde.

Am fruchtbarsten an politischen Reformideen und an idealen Staatskon¬
struktionen war die Zeit der Sophisten; in ihr finden wir anch die meisten
Neigungen und Forderungen sozialistischen Gepräges, zum großen Theil Utopieen,
die niemals realisirt worden sind.

Seitdem die Sophisten die Normen für Recht und Wahrheit nicht mehr
in der Realität und Empirie, sondern im Geiste des Individuums zu suchen
gelehrt hatten, und nur Jeder sein persönliches Urtheil über Staat, Gesellschaft
und Wissenschaft als gleichberechtigt mit jedem andern ansah, mußte in dem¬
selben Maße, wie die Achtung vor dem Bestehenden schwand, das Bestreben
sich entwickeln, die dem Individuum zusagenden Ordnungen an dessen Stelle
zu setzen. Dies Bestreben charakterisirt die sozialpolitischen Theoreme der
Sophisten. Ohne daß sie, wie die früher genannten Philosophen, in eigener
politischer Thätigkeit die nöthige Erfahrung gesammelt hatten, konstruirten sie
sich einen "besten Staat" aus der Idee und traten mit fertigen Theoremen
vor ihre Schüler, mit der Prätension, sie durch dieselben zur staatlichen Praxis
tüchtig zu machen. Es war das erste Mal, daß man das Bestehende in Staat
und Sitte kurzweg verwarf und von Grund aus umwälzen wollte. Die frü¬
heren Staatsphilosophen hatten, erfahrener und bedächtiger, die durch Jahr¬
hunderte lange Entwickelung bestimmten Grundlagen des Baues unangetastet
gelassen und nur unter Respektirung des bestehenden Organismus hie und da


wollte, daß bei Verheiratungen die Reichen Aussteuer geben, aber nicht erhalten,
die Armen erhalten, aber nicht geben sollten, Hippodamos, ein Baumeister von
Milet, der um 450 nach Athen kam und für seine Straßenanlagen im Peirüeus
das Bürgerrecht erhielt, war, wie Aristoteles sagt, der erste Nicht-Staatsmann,
der es unternahm, etwas über die beste Verfassung zu sagen. Das herrschende
Prinzip in seinem Staatsanfbau, den er streng symmetrisch wie eine Stadt
oder ein Hans eingerichtet wissen wollte, war die Dreitheilung. Er gab ein
Schema an, nach welchem nicht blos die äußere Einrichtung der Stadt, sondern
auch die Gliederung der Stände, die Zahl der Bürger, die Art ihrer Beschäf¬
tigung u. s. w. streng zu regeln war — also die Jdecilkaserne des sozialdemo¬
kratischen Zukunftsstaates. In Thurioi, wohin er sich etwa 440 begab, stand er
in Verbindung mit den Sophisten und Pythagoreern; an den Einfluß der
letzteren erinnert seine aristokratische Staatsgliederung und die geforderte Güter¬
gemeinschaft. Auch Lysander hinterließ eine Schrift, welche, durch Kleon von
Halikarnaß angefertigt, seine Ansichten über die in Sparta nothwendige Ver¬
fassungsänderung darlegte. Die Spartaner trugen Bedenken, sie bekannt werden
zu lassen, und wir wissen daher nur, daß er eine einheitliche Staatsgewalt
dadurch herstellen wollte, daß die Königswürde durch Vvlkswahl auf den tüch¬
tigsten Mann übertragen würde.

Am fruchtbarsten an politischen Reformideen und an idealen Staatskon¬
struktionen war die Zeit der Sophisten; in ihr finden wir anch die meisten
Neigungen und Forderungen sozialistischen Gepräges, zum großen Theil Utopieen,
die niemals realisirt worden sind.

Seitdem die Sophisten die Normen für Recht und Wahrheit nicht mehr
in der Realität und Empirie, sondern im Geiste des Individuums zu suchen
gelehrt hatten, und nur Jeder sein persönliches Urtheil über Staat, Gesellschaft
und Wissenschaft als gleichberechtigt mit jedem andern ansah, mußte in dem¬
selben Maße, wie die Achtung vor dem Bestehenden schwand, das Bestreben
sich entwickeln, die dem Individuum zusagenden Ordnungen an dessen Stelle
zu setzen. Dies Bestreben charakterisirt die sozialpolitischen Theoreme der
Sophisten. Ohne daß sie, wie die früher genannten Philosophen, in eigener
politischer Thätigkeit die nöthige Erfahrung gesammelt hatten, konstruirten sie
sich einen „besten Staat" aus der Idee und traten mit fertigen Theoremen
vor ihre Schüler, mit der Prätension, sie durch dieselben zur staatlichen Praxis
tüchtig zu machen. Es war das erste Mal, daß man das Bestehende in Staat
und Sitte kurzweg verwarf und von Grund aus umwälzen wollte. Die frü¬
heren Staatsphilosophen hatten, erfahrener und bedächtiger, die durch Jahr¬
hunderte lange Entwickelung bestimmten Grundlagen des Baues unangetastet
gelassen und nur unter Respektirung des bestehenden Organismus hie und da


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/430>, abgerufen am 27.09.2024.