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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Staaten als der vornehmste galt und Vorrechte genoß. Den Handwerkern
wurden vielfach nur geschmälerte oder gar keine staatsbürgerlichen Rechte zu¬
gestanden. Waffen zu tragen war zugleich Pflicht und Recht nur der Voll¬
bürger. Von einer Gleichberechtigung aller Staatsangehörigen, wie sie das
moderne Ideal ist, war bekanntlich in Griechenland nirgends die Rede. Selbst
die ausgesprochenste Demokratie konnte sich nicht ohne einen Sklavenstand be¬
helfen, und auch die freie Bevölkerung zerfiel meistens in die mit ungleichen
Rechten ausgestatteten Voll-, Halb- und Nichtbürger. Nur die Ersten pflegten
zur Theilnahme an der Regierung, den Aemtern, Gerichten und Volksversamm¬
lungen berechtigt zu sein. Die Zweiten besaßen mit jenen das Recht des
Grundbesitzes, des selbständigen Gerichtsstandes und der Epigamie, was den
Letzten fehlte.

Bei der Betrachtung der speziellen Verfassungen soll noch gezeigt werden,
welcherlei sozialistisch zu nennende Elemente sich in den politischen Ordnungen
vorfinden. Hier mag zuvörderst des zweiten Hauptmomentes gedacht werden:
der allgemein anerkannten Kompetenz des Staates auch auf den nichtpoliti¬
schen Lebensgebieten. Der Gedanke der heutigen Sozialisten, das Gesammt-
leben der Bürger unter die Aufsicht des Staates zu stellen, ist in mehV oder
minder weitem Umfange schon in den alten Kulturstaaten realisirt gewesen,
um dann von der unter Beihilfe des Christenthums fortschreitenden Entwicke¬
lung der persönlichen Freiheit überwunden zu werden. Der hellenische Staat
gab Vorschriften über die körperliche Ausbildung, die Lebensweise, die Diät,
die Wohnung, Kleidung und die Sitten seiner Bürger, beaufsichtigte deren sitt¬
liches und religiöses Verhalten, ja sogar ihre künstlerische und wissenschaftliche
Thätigkeit und scheute sich nicht, gegen philosophische Lehrmeinungen einzu¬
schreiten, sobald sie den Staatszweck zu gefährden schienen, eine Maxime, welche
die modernen Sozialisten sicherlich in ihrem Staate wieder zur Geltung bringen
würden, so sehr sie auch deren Anwendung gegen sich selbst bekämpfen.

Das im Beginne der historischen Zeit, d. h. in den ersten Jahrhunderten
nach der dorischen Wanderung, noch überwiegend herrschende Königthum ging
naturgemäß zunächst in die Oligarchie über. Aus ihr gingen vielfach Tyran¬
nenherrschaften hervor, und erst nach deren gewaltsamer Beseitigung kam die
Demokratie auf, welche dann die weitest verbreitete Staatsform wurde. Die
Einrichtungen der oligarchischen Staaten gingen in erster Linie darauf aus,
die Herrschaft der bevorrechteten Klassen zu stärken und zu erhalten. Diesem
Zwecke diente die Fernhaltung der Minderberechtigten von den Aemtern und
dem Waffendienste, die strenge militärische Erziehung der Vollbürger in Kreta
und Sparta, die Sittenpolizei in diesen und anderen Staaten, die Gesetze über
Unveräußerlichkeit der Grundstücke und Unteilbarkeit derselben, über das


Staaten als der vornehmste galt und Vorrechte genoß. Den Handwerkern
wurden vielfach nur geschmälerte oder gar keine staatsbürgerlichen Rechte zu¬
gestanden. Waffen zu tragen war zugleich Pflicht und Recht nur der Voll¬
bürger. Von einer Gleichberechtigung aller Staatsangehörigen, wie sie das
moderne Ideal ist, war bekanntlich in Griechenland nirgends die Rede. Selbst
die ausgesprochenste Demokratie konnte sich nicht ohne einen Sklavenstand be¬
helfen, und auch die freie Bevölkerung zerfiel meistens in die mit ungleichen
Rechten ausgestatteten Voll-, Halb- und Nichtbürger. Nur die Ersten pflegten
zur Theilnahme an der Regierung, den Aemtern, Gerichten und Volksversamm¬
lungen berechtigt zu sein. Die Zweiten besaßen mit jenen das Recht des
Grundbesitzes, des selbständigen Gerichtsstandes und der Epigamie, was den
Letzten fehlte.

Bei der Betrachtung der speziellen Verfassungen soll noch gezeigt werden,
welcherlei sozialistisch zu nennende Elemente sich in den politischen Ordnungen
vorfinden. Hier mag zuvörderst des zweiten Hauptmomentes gedacht werden:
der allgemein anerkannten Kompetenz des Staates auch auf den nichtpoliti¬
schen Lebensgebieten. Der Gedanke der heutigen Sozialisten, das Gesammt-
leben der Bürger unter die Aufsicht des Staates zu stellen, ist in mehV oder
minder weitem Umfange schon in den alten Kulturstaaten realisirt gewesen,
um dann von der unter Beihilfe des Christenthums fortschreitenden Entwicke¬
lung der persönlichen Freiheit überwunden zu werden. Der hellenische Staat
gab Vorschriften über die körperliche Ausbildung, die Lebensweise, die Diät,
die Wohnung, Kleidung und die Sitten seiner Bürger, beaufsichtigte deren sitt¬
liches und religiöses Verhalten, ja sogar ihre künstlerische und wissenschaftliche
Thätigkeit und scheute sich nicht, gegen philosophische Lehrmeinungen einzu¬
schreiten, sobald sie den Staatszweck zu gefährden schienen, eine Maxime, welche
die modernen Sozialisten sicherlich in ihrem Staate wieder zur Geltung bringen
würden, so sehr sie auch deren Anwendung gegen sich selbst bekämpfen.

Das im Beginne der historischen Zeit, d. h. in den ersten Jahrhunderten
nach der dorischen Wanderung, noch überwiegend herrschende Königthum ging
naturgemäß zunächst in die Oligarchie über. Aus ihr gingen vielfach Tyran¬
nenherrschaften hervor, und erst nach deren gewaltsamer Beseitigung kam die
Demokratie auf, welche dann die weitest verbreitete Staatsform wurde. Die
Einrichtungen der oligarchischen Staaten gingen in erster Linie darauf aus,
die Herrschaft der bevorrechteten Klassen zu stärken und zu erhalten. Diesem
Zwecke diente die Fernhaltung der Minderberechtigten von den Aemtern und
dem Waffendienste, die strenge militärische Erziehung der Vollbürger in Kreta
und Sparta, die Sittenpolizei in diesen und anderen Staaten, die Gesetze über
Unveräußerlichkeit der Grundstücke und Unteilbarkeit derselben, über das


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[0428] Staaten als der vornehmste galt und Vorrechte genoß. Den Handwerkern wurden vielfach nur geschmälerte oder gar keine staatsbürgerlichen Rechte zu¬ gestanden. Waffen zu tragen war zugleich Pflicht und Recht nur der Voll¬ bürger. Von einer Gleichberechtigung aller Staatsangehörigen, wie sie das moderne Ideal ist, war bekanntlich in Griechenland nirgends die Rede. Selbst die ausgesprochenste Demokratie konnte sich nicht ohne einen Sklavenstand be¬ helfen, und auch die freie Bevölkerung zerfiel meistens in die mit ungleichen Rechten ausgestatteten Voll-, Halb- und Nichtbürger. Nur die Ersten pflegten zur Theilnahme an der Regierung, den Aemtern, Gerichten und Volksversamm¬ lungen berechtigt zu sein. Die Zweiten besaßen mit jenen das Recht des Grundbesitzes, des selbständigen Gerichtsstandes und der Epigamie, was den Letzten fehlte. Bei der Betrachtung der speziellen Verfassungen soll noch gezeigt werden, welcherlei sozialistisch zu nennende Elemente sich in den politischen Ordnungen vorfinden. Hier mag zuvörderst des zweiten Hauptmomentes gedacht werden: der allgemein anerkannten Kompetenz des Staates auch auf den nichtpoliti¬ schen Lebensgebieten. Der Gedanke der heutigen Sozialisten, das Gesammt- leben der Bürger unter die Aufsicht des Staates zu stellen, ist in mehV oder minder weitem Umfange schon in den alten Kulturstaaten realisirt gewesen, um dann von der unter Beihilfe des Christenthums fortschreitenden Entwicke¬ lung der persönlichen Freiheit überwunden zu werden. Der hellenische Staat gab Vorschriften über die körperliche Ausbildung, die Lebensweise, die Diät, die Wohnung, Kleidung und die Sitten seiner Bürger, beaufsichtigte deren sitt¬ liches und religiöses Verhalten, ja sogar ihre künstlerische und wissenschaftliche Thätigkeit und scheute sich nicht, gegen philosophische Lehrmeinungen einzu¬ schreiten, sobald sie den Staatszweck zu gefährden schienen, eine Maxime, welche die modernen Sozialisten sicherlich in ihrem Staate wieder zur Geltung bringen würden, so sehr sie auch deren Anwendung gegen sich selbst bekämpfen. Das im Beginne der historischen Zeit, d. h. in den ersten Jahrhunderten nach der dorischen Wanderung, noch überwiegend herrschende Königthum ging naturgemäß zunächst in die Oligarchie über. Aus ihr gingen vielfach Tyran¬ nenherrschaften hervor, und erst nach deren gewaltsamer Beseitigung kam die Demokratie auf, welche dann die weitest verbreitete Staatsform wurde. Die Einrichtungen der oligarchischen Staaten gingen in erster Linie darauf aus, die Herrschaft der bevorrechteten Klassen zu stärken und zu erhalten. Diesem Zwecke diente die Fernhaltung der Minderberechtigten von den Aemtern und dem Waffendienste, die strenge militärische Erziehung der Vollbürger in Kreta und Sparta, die Sittenpolizei in diesen und anderen Staaten, die Gesetze über Unveräußerlichkeit der Grundstücke und Unteilbarkeit derselben, über das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/428>, abgerufen am 20.10.2024.