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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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nennt selbst Plato den Anakreon weise, der alle Mädchen liebte, nicht mit der
transcendentalen Liebe eines irrenden Ritters oder Mystikers."

"Die Zeit, wo Aoung mich entzückte, ist vorbei. Ich habe keine Lust mehr,
vor der Zeit in die unsichtbaren Sphären zu reisen; ich verlange nicht mehr,
daß jeder Mensch ein Cato sein soll, und gebe mich nicht mehr damit ab,
junge Mädchen in den Mysterien der platonischen Philosophie zu unterrichten.
Man kann ein artiges Mädchen lieben, ohne sich gleich den Kopf zu verdrehn...
Liebenswürdige Mädchen sind doch ein recht schöner Theil dieser Welt, was
auch ihr Aerzte davon glauben mögt: ihr wißt zuviel, um in Hinsicht auf das
schöne Geschlecht so zarte Gedanken und so angenehme Thorheiten unterhalten
zu können, wie wir andern Künstler, die wir in der Natur nur das Schöne
suchen."

"Mein Absehn ist auf den Charakter eines Virtuoso gerichtet, den Shaftes-
bury so bewundernswürdig gezeichnet hat. Der Weise, der alle seine äußern
und innern Sinne ausbildet, alle seine Vermögen übt, versteht allein die
Kunst zu leben."

"Ich werde mich nach und nach so zeigen wie ich bin: der Schleier wird
fallen, der Fanatiker, der Bodmerianer werden zu dem werden, was aus alleu
Phantomen wird. Ich sehe ein, daß ich als unbegreiflicher Mensch, als Heuchler,
inconsequent, mondsüchtig habe erscheinen müssen. Ich sehe alle meine Ver-
irrungen, ich werde sie vermeiden. Kurz, ich habe 25 Jahre hinter mir."
(26. April 1759.)

Da seine Erziehungsanstalt sich allmählich auflöste, so verließ Wieland
am 13. Juni 1759 Zürich und siedelte sich in Bern an. Dort hatte er schnell
wieder Gelegenheit, sein Herz zu verschenken. Diesmal war es an Julie
Bordell, die Tochter eines Pastors; sein Verhältniß zu ihr hat eine ganze
Geschichte.

Am 4. Juli schreibt er: "Mlle. Bordell ist ein schreckliches Mädchen! Sie
redete mir in einem Zug von Plato und Plinius, Cicero und Leibnitz,
Aristoteles und Locke, von gleichschenkligen Dreiecken -- sie redete von Allem!
Sie spricht so schnell, daß es nicht möglich ist, ihr mit den Gedanken zu folgen;
sie hat Geist, Lectüre, Philosophie, sphärische Trigonometrie, aber -- es giebt
kein Mädchen im Oberland, das ich dieser gelehrten Bordell nicht vorziehen
würde!" -- Am 23. Juli: "Ihre Ahnung, wie es mit mir gehn würde,
war sehr richtig. So sehr sie mir beim ersten Besuch mißfallen, so sehr gefiel
sie mir beim zweiten. Beim dritten fand ich schon ein vortreffliches Herz in
ihr. Sie ist äußerst offen gegen mich!" -- Am 29. Juli: "Sie ist nicht
schön und nicht ganz gesund. Sie will nichts von Liebe hören. Sie ist meine
Freundin und ich soll ihr Freund sein. So sei es denn." Den 29. August


nennt selbst Plato den Anakreon weise, der alle Mädchen liebte, nicht mit der
transcendentalen Liebe eines irrenden Ritters oder Mystikers."

„Die Zeit, wo Aoung mich entzückte, ist vorbei. Ich habe keine Lust mehr,
vor der Zeit in die unsichtbaren Sphären zu reisen; ich verlange nicht mehr,
daß jeder Mensch ein Cato sein soll, und gebe mich nicht mehr damit ab,
junge Mädchen in den Mysterien der platonischen Philosophie zu unterrichten.
Man kann ein artiges Mädchen lieben, ohne sich gleich den Kopf zu verdrehn...
Liebenswürdige Mädchen sind doch ein recht schöner Theil dieser Welt, was
auch ihr Aerzte davon glauben mögt: ihr wißt zuviel, um in Hinsicht auf das
schöne Geschlecht so zarte Gedanken und so angenehme Thorheiten unterhalten
zu können, wie wir andern Künstler, die wir in der Natur nur das Schöne
suchen."

„Mein Absehn ist auf den Charakter eines Virtuoso gerichtet, den Shaftes-
bury so bewundernswürdig gezeichnet hat. Der Weise, der alle seine äußern
und innern Sinne ausbildet, alle seine Vermögen übt, versteht allein die
Kunst zu leben."

„Ich werde mich nach und nach so zeigen wie ich bin: der Schleier wird
fallen, der Fanatiker, der Bodmerianer werden zu dem werden, was aus alleu
Phantomen wird. Ich sehe ein, daß ich als unbegreiflicher Mensch, als Heuchler,
inconsequent, mondsüchtig habe erscheinen müssen. Ich sehe alle meine Ver-
irrungen, ich werde sie vermeiden. Kurz, ich habe 25 Jahre hinter mir."
(26. April 1759.)

Da seine Erziehungsanstalt sich allmählich auflöste, so verließ Wieland
am 13. Juni 1759 Zürich und siedelte sich in Bern an. Dort hatte er schnell
wieder Gelegenheit, sein Herz zu verschenken. Diesmal war es an Julie
Bordell, die Tochter eines Pastors; sein Verhältniß zu ihr hat eine ganze
Geschichte.

Am 4. Juli schreibt er: „Mlle. Bordell ist ein schreckliches Mädchen! Sie
redete mir in einem Zug von Plato und Plinius, Cicero und Leibnitz,
Aristoteles und Locke, von gleichschenkligen Dreiecken — sie redete von Allem!
Sie spricht so schnell, daß es nicht möglich ist, ihr mit den Gedanken zu folgen;
sie hat Geist, Lectüre, Philosophie, sphärische Trigonometrie, aber — es giebt
kein Mädchen im Oberland, das ich dieser gelehrten Bordell nicht vorziehen
würde!" — Am 23. Juli: „Ihre Ahnung, wie es mit mir gehn würde,
war sehr richtig. So sehr sie mir beim ersten Besuch mißfallen, so sehr gefiel
sie mir beim zweiten. Beim dritten fand ich schon ein vortreffliches Herz in
ihr. Sie ist äußerst offen gegen mich!" — Am 29. Juli: „Sie ist nicht
schön und nicht ganz gesund. Sie will nichts von Liebe hören. Sie ist meine
Freundin und ich soll ihr Freund sein. So sei es denn." Den 29. August


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[0307] nennt selbst Plato den Anakreon weise, der alle Mädchen liebte, nicht mit der transcendentalen Liebe eines irrenden Ritters oder Mystikers." „Die Zeit, wo Aoung mich entzückte, ist vorbei. Ich habe keine Lust mehr, vor der Zeit in die unsichtbaren Sphären zu reisen; ich verlange nicht mehr, daß jeder Mensch ein Cato sein soll, und gebe mich nicht mehr damit ab, junge Mädchen in den Mysterien der platonischen Philosophie zu unterrichten. Man kann ein artiges Mädchen lieben, ohne sich gleich den Kopf zu verdrehn... Liebenswürdige Mädchen sind doch ein recht schöner Theil dieser Welt, was auch ihr Aerzte davon glauben mögt: ihr wißt zuviel, um in Hinsicht auf das schöne Geschlecht so zarte Gedanken und so angenehme Thorheiten unterhalten zu können, wie wir andern Künstler, die wir in der Natur nur das Schöne suchen." „Mein Absehn ist auf den Charakter eines Virtuoso gerichtet, den Shaftes- bury so bewundernswürdig gezeichnet hat. Der Weise, der alle seine äußern und innern Sinne ausbildet, alle seine Vermögen übt, versteht allein die Kunst zu leben." „Ich werde mich nach und nach so zeigen wie ich bin: der Schleier wird fallen, der Fanatiker, der Bodmerianer werden zu dem werden, was aus alleu Phantomen wird. Ich sehe ein, daß ich als unbegreiflicher Mensch, als Heuchler, inconsequent, mondsüchtig habe erscheinen müssen. Ich sehe alle meine Ver- irrungen, ich werde sie vermeiden. Kurz, ich habe 25 Jahre hinter mir." (26. April 1759.) Da seine Erziehungsanstalt sich allmählich auflöste, so verließ Wieland am 13. Juni 1759 Zürich und siedelte sich in Bern an. Dort hatte er schnell wieder Gelegenheit, sein Herz zu verschenken. Diesmal war es an Julie Bordell, die Tochter eines Pastors; sein Verhältniß zu ihr hat eine ganze Geschichte. Am 4. Juli schreibt er: „Mlle. Bordell ist ein schreckliches Mädchen! Sie redete mir in einem Zug von Plato und Plinius, Cicero und Leibnitz, Aristoteles und Locke, von gleichschenkligen Dreiecken — sie redete von Allem! Sie spricht so schnell, daß es nicht möglich ist, ihr mit den Gedanken zu folgen; sie hat Geist, Lectüre, Philosophie, sphärische Trigonometrie, aber — es giebt kein Mädchen im Oberland, das ich dieser gelehrten Bordell nicht vorziehen würde!" — Am 23. Juli: „Ihre Ahnung, wie es mit mir gehn würde, war sehr richtig. So sehr sie mir beim ersten Besuch mißfallen, so sehr gefiel sie mir beim zweiten. Beim dritten fand ich schon ein vortreffliches Herz in ihr. Sie ist äußerst offen gegen mich!" — Am 29. Juli: „Sie ist nicht schön und nicht ganz gesund. Sie will nichts von Liebe hören. Sie ist meine Freundin und ich soll ihr Freund sein. So sei es denn." Den 29. August

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/307>, abgerufen am 27.09.2024.