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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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liebe, Melancholische besser auf uns wirkt als das Artige, Zärtliche, Verliebte
daß uns die zu große Einfachheit mehr ermüde als die zu große Verwickelung.
Er hätte auf dieser Spur bleiben sollen, und sie würde ihn graden Wegs auf
das englische Theater geführt haben. Wenn man die Meisterstücke des Shake¬
speare mit einigen bescheidenen Veränderungen unsern Deutschen übersetzt
hätte, es wäre von bessern Folgen gewesen, als daß man sie mit Corneille
und Racine bekannt gemacht hat. Erstlich würde das Volk an Shakespeare
weit mehr Geschmack gefunden, und zweitens würde er ganz andre Köpfe
unter uns erweckt haben. Denn ein Genie kann nur von einem Genie ent¬
zündet werden, und am leichtesten von so einem, das alles blos der Natur zu
danken zu haben scheint, und durch die mühsamen Vollkommenheiten der Kunst
nicht abschreckt."

Shakespeare war seit 1741 fast ganz in Vergessenheit gerathen; die
Bodmerianer wollten ebensowenig von ihm wissen als die Gottschedianer.
Nicolai hatte 1755 auf Shakespeare's Werke hingewiesen: "freilich, ihre
Wildheit, ihre Unregelmäßigkeit, ihr übel geordneter Dialog ist nicht nachzu¬
ahmen." In Jöcher's "Gelehrtenlexikon" (1751) steht folgender Artikel:
"Shakespeare, Wilh., ein englischer Dramaticns, geb. zu Stratford 1564,
ward schlecht auferzogen und verstand kein Latein, brachte es aber in der Poesie
sehr hoch. Er hatte ein Scherzhaftes Gemüth, konnte aber auch sehr ernsthaft
sein, excellirte in Tragödien, und hatte viel subtile Streitigkeiten mit Ben
Johnson, wiewohl keiner von beiden viel damit gewann."

Warmer hatte sich Zimmermann im "Leben Haller's" ausgesprochen.
"Ein himmlisches Feuer leuchtet aus Shakespeare's Werken hervor. Der
war geboren, ein Dichter zu sein; die englische Nation setzt ihn mehrentheils
über alle Sterbliche hinauf. Allein der Mangel des wahren Geschmacks und
der Regeln des Trauerspiels verstellt seine Schönheiten und macht sie einem
Strohfeuer ähnlich, das eine große Flamme auswirft, die uns wohl erleuchtet,
aber keine Wärme zurückläßt."

"Ich liebe diesen außerordentlichen Menschen," schreibt Wie land im
April 1758, "mit all seinen Fehlern. Er ist fast einzig darin, die Menschen
nach der Natur zu malen. Seine Fruchtbarkeit ist unerschöpflich. Er scheint
nie etwas Anders studirt zu haben als die Natur; ist bald der Michel Angelo,
bald der Correggio der Dichter. Wo fände man mehr kühne und doch richtige
Entwürfe, mehr neue, schöne', erhabne, treffende Gedanken, mehr lebendige,
glückliche, beseelte Ausdrücke als bei diesem unvergleichlichen Genie! Zum Geier
mit dem, der einem Genie von solchem Rang Regelmäßigkeit wünscht!"

Nun sprach Lessing das entscheidende Wort. "Auch nach den Mustern
der Alten die Sache zu entscheiden, ist Shakespeare ein weit größerer tragt-


liebe, Melancholische besser auf uns wirkt als das Artige, Zärtliche, Verliebte
daß uns die zu große Einfachheit mehr ermüde als die zu große Verwickelung.
Er hätte auf dieser Spur bleiben sollen, und sie würde ihn graden Wegs auf
das englische Theater geführt haben. Wenn man die Meisterstücke des Shake¬
speare mit einigen bescheidenen Veränderungen unsern Deutschen übersetzt
hätte, es wäre von bessern Folgen gewesen, als daß man sie mit Corneille
und Racine bekannt gemacht hat. Erstlich würde das Volk an Shakespeare
weit mehr Geschmack gefunden, und zweitens würde er ganz andre Köpfe
unter uns erweckt haben. Denn ein Genie kann nur von einem Genie ent¬
zündet werden, und am leichtesten von so einem, das alles blos der Natur zu
danken zu haben scheint, und durch die mühsamen Vollkommenheiten der Kunst
nicht abschreckt."

Shakespeare war seit 1741 fast ganz in Vergessenheit gerathen; die
Bodmerianer wollten ebensowenig von ihm wissen als die Gottschedianer.
Nicolai hatte 1755 auf Shakespeare's Werke hingewiesen: „freilich, ihre
Wildheit, ihre Unregelmäßigkeit, ihr übel geordneter Dialog ist nicht nachzu¬
ahmen." In Jöcher's „Gelehrtenlexikon" (1751) steht folgender Artikel:
„Shakespeare, Wilh., ein englischer Dramaticns, geb. zu Stratford 1564,
ward schlecht auferzogen und verstand kein Latein, brachte es aber in der Poesie
sehr hoch. Er hatte ein Scherzhaftes Gemüth, konnte aber auch sehr ernsthaft
sein, excellirte in Tragödien, und hatte viel subtile Streitigkeiten mit Ben
Johnson, wiewohl keiner von beiden viel damit gewann."

Warmer hatte sich Zimmermann im „Leben Haller's" ausgesprochen.
„Ein himmlisches Feuer leuchtet aus Shakespeare's Werken hervor. Der
war geboren, ein Dichter zu sein; die englische Nation setzt ihn mehrentheils
über alle Sterbliche hinauf. Allein der Mangel des wahren Geschmacks und
der Regeln des Trauerspiels verstellt seine Schönheiten und macht sie einem
Strohfeuer ähnlich, das eine große Flamme auswirft, die uns wohl erleuchtet,
aber keine Wärme zurückläßt."

„Ich liebe diesen außerordentlichen Menschen," schreibt Wie land im
April 1758, „mit all seinen Fehlern. Er ist fast einzig darin, die Menschen
nach der Natur zu malen. Seine Fruchtbarkeit ist unerschöpflich. Er scheint
nie etwas Anders studirt zu haben als die Natur; ist bald der Michel Angelo,
bald der Correggio der Dichter. Wo fände man mehr kühne und doch richtige
Entwürfe, mehr neue, schöne', erhabne, treffende Gedanken, mehr lebendige,
glückliche, beseelte Ausdrücke als bei diesem unvergleichlichen Genie! Zum Geier
mit dem, der einem Genie von solchem Rang Regelmäßigkeit wünscht!"

Nun sprach Lessing das entscheidende Wort. „Auch nach den Mustern
der Alten die Sache zu entscheiden, ist Shakespeare ein weit größerer tragt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/302>, abgerufen am 29.12.2024.