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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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so interessanter, da sie einen sehr entschiedenen Gegensatz gegen Winckelmann
aussprechen: dieser sucht das Schöne in der Ruhe, Lessing in der Bewegung.

"Die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsere Fähigkeit, Mit¬
leid zu fühlen, erweitern. Wer uns mitleidig macht, macht uns besser und
tugendhafter. Das Trauerspiel soll soviel Mitleid erwecken als es kann; folg¬
lich müssen alle Personen, die man unglücklich werden läßt, gute Eigenschaften
haben; folglich muß die beste Person die unglücklichste sein. Der Dichter darf
keinen von allem Guten entblößten Bösewicht aufführen. Der Held muß nicht
gleich einem Gott seine Tugenden ruhig und ungekränkt verüben. Bewunderung
ist das entbehrlich gewordene Mitleid; da aber Mitleid das Hauptwerk ist, so
muß es so selten als möglich entbehrlich werden; der Dichter muß seinen
Helden nicht zu auffallend der bloßen Bewunderung aussetzen ... Er soll
seinem Helden nur soviel Standhaftigkeit geben, daß er nicht auf eine unan¬
ständige Art unter seinem Unglück erliege. Empfinden muß er ihn sein Unglück
lassen, sonst können wir es auch nicht fühlen; nur dann und wann muß er
ihn lassen einen Effort thun, der auf wenige Augenblicke eine dem Schicksal
gewachsene Seele zu zeigen scheint, welche große Seele den Augenblick darauf
wieder ein Raub ihrer schmerzlichen Empfindungen werden muß."

"Der Heldendichter läßt seinen Helden unglücklich sein, um seine Voll¬
kommenheiten an's Licht zu setzen; der Tragöde setzt seines Helden Vollkommen¬
heiten an's Licht, um uns sein Unglück desto schmerzhafter zu machen. Er
wartet nicht bis zuletzt: er vertheilt das Mitleid durch das ganze Trauerspiel;
er bringt überall Stellen an, wo er die Vollkommenheiten und Unglücksfälle
des Helden in einer rührenden Verbindung zeigt. Da wir aber ein starkes
Mitleid nicht lange aushalten, unterbricht er diese Stellen durch Ruhepunkte,
in denen wir uns zu neuem Mitleid erholen. Das Trauerspiel soll das Mit¬
leid überhaupt üben: der ist ohne Zweifel der beste Mensch, der die größte
Fertigkeit im Mitleiden hat."

"Freilich muß an dem Helden ein gewisser Fehler sein, durch welchen er
sein Unglück über sich gebracht hat, weil ohne diesen sein Charakter und sein
Unglück kein Ganzes ausmachen würden. Entsetzen und Abscheu ohne Mitleid
würde es erregen, wenn kein Zusammenhang zwischen der Güte des Helden
und seinem Unglück wäre."

Auch die "Literaturbriefe" nehmen die dramatische Frage auf. Lessing
will erweisen (Februar 1759), daß Gottsched dem deutschen Theater eine ganz
falsche Richtung gegeben habe, indem er es zur Nachahmung der Franzosen
verleitete. "Er hätte aus unseren alten Stücken, die er vertrieb, hinlänglich
merken können, daß wir mehr sehn und denken wollen, als das furchtsame
französische Trauerspiel zu sehn und zu denken giebt; daß das Große, Schreck-


so interessanter, da sie einen sehr entschiedenen Gegensatz gegen Winckelmann
aussprechen: dieser sucht das Schöne in der Ruhe, Lessing in der Bewegung.

„Die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsere Fähigkeit, Mit¬
leid zu fühlen, erweitern. Wer uns mitleidig macht, macht uns besser und
tugendhafter. Das Trauerspiel soll soviel Mitleid erwecken als es kann; folg¬
lich müssen alle Personen, die man unglücklich werden läßt, gute Eigenschaften
haben; folglich muß die beste Person die unglücklichste sein. Der Dichter darf
keinen von allem Guten entblößten Bösewicht aufführen. Der Held muß nicht
gleich einem Gott seine Tugenden ruhig und ungekränkt verüben. Bewunderung
ist das entbehrlich gewordene Mitleid; da aber Mitleid das Hauptwerk ist, so
muß es so selten als möglich entbehrlich werden; der Dichter muß seinen
Helden nicht zu auffallend der bloßen Bewunderung aussetzen ... Er soll
seinem Helden nur soviel Standhaftigkeit geben, daß er nicht auf eine unan¬
ständige Art unter seinem Unglück erliege. Empfinden muß er ihn sein Unglück
lassen, sonst können wir es auch nicht fühlen; nur dann und wann muß er
ihn lassen einen Effort thun, der auf wenige Augenblicke eine dem Schicksal
gewachsene Seele zu zeigen scheint, welche große Seele den Augenblick darauf
wieder ein Raub ihrer schmerzlichen Empfindungen werden muß."

„Der Heldendichter läßt seinen Helden unglücklich sein, um seine Voll¬
kommenheiten an's Licht zu setzen; der Tragöde setzt seines Helden Vollkommen¬
heiten an's Licht, um uns sein Unglück desto schmerzhafter zu machen. Er
wartet nicht bis zuletzt: er vertheilt das Mitleid durch das ganze Trauerspiel;
er bringt überall Stellen an, wo er die Vollkommenheiten und Unglücksfälle
des Helden in einer rührenden Verbindung zeigt. Da wir aber ein starkes
Mitleid nicht lange aushalten, unterbricht er diese Stellen durch Ruhepunkte,
in denen wir uns zu neuem Mitleid erholen. Das Trauerspiel soll das Mit¬
leid überhaupt üben: der ist ohne Zweifel der beste Mensch, der die größte
Fertigkeit im Mitleiden hat."

„Freilich muß an dem Helden ein gewisser Fehler sein, durch welchen er
sein Unglück über sich gebracht hat, weil ohne diesen sein Charakter und sein
Unglück kein Ganzes ausmachen würden. Entsetzen und Abscheu ohne Mitleid
würde es erregen, wenn kein Zusammenhang zwischen der Güte des Helden
und seinem Unglück wäre."

Auch die „Literaturbriefe" nehmen die dramatische Frage auf. Lessing
will erweisen (Februar 1759), daß Gottsched dem deutschen Theater eine ganz
falsche Richtung gegeben habe, indem er es zur Nachahmung der Franzosen
verleitete. „Er hätte aus unseren alten Stücken, die er vertrieb, hinlänglich
merken können, daß wir mehr sehn und denken wollen, als das furchtsame
französische Trauerspiel zu sehn und zu denken giebt; daß das Große, Schreck-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/301>, abgerufen am 20.10.2024.