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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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führen wolle, das entscheide die Einsicht, die bis jetzt die Geschicke dieses Landes
in ihre Bahn gebracht hat, Reichsregierung und Reichstag im Einvernehmen.
Nur möge man dafür sorgen, daß eine entschiedene und definitive Antwort
gegeben werde auf die fragende Bitte um eine Regierung im Lande. Auch da
gilt es, was von dem deutschen Volke auf dem wirthschaftlichen Gebiete gilt:
die Elsässer wollen "Gewißheit über ihre Zukunft, und alles andere ist besser
als das Hinziehen der Ungewißheit, in der Niemand weiß, wie die Zukunft
T^Z sich gestalten wird".




politische Briefe.
IX.
Der Reichstag vom 2. bis zum 9. Mai.

Es ist vielleicht der richtige Eindruck, wenn man die erste Lesung der
Zollreformvorlage, mit welcher der Reichstag in sechs langen Sitzungstagen
sich beschäftigt hat, als die größte Debatte in der parlamentarischen Geschichte
Deutschland's nach Ausdehnung, Gehalt und praktischer Bedeutung schätzt.
Unser erstes wirkliches Parlament war der Vereinigte Landtag von 1847, dessen
Verhandlungen mit Recht noch heute unvergessen sind. Es war die erste Ver¬
lautbarung unserer politischen Sehnsucht in den geregelten Formen parlamen¬
tarischer Diskussion, auf einem verfassungsmäßigen Boden, gerichtet auf ein
mäßiges, durch feierliche Versprechungen gewiesenes Ziel. Die Diskussion be¬
wegte sich mit einem Anstand und in einem patriotischen Ton ohne Gleichen.
So bleibt diese Verhandlung das Ehrendenkmal, welches der Parlamentaris¬
mus bei seinem Eingang in unser Staatsleben sich errichtet, in einiger Bezie¬
hung das Gegenstück zur ersten französischen Nationalversammlung. Aber eben,
daß dieser begeisterten, drei Viertheile der Versammlung beseelenden Offensive
nur eine verlorene, sich von Anfang, wenigstens geistig, verloren gebende Defen¬
sive gegenüberstand, daß das Ziel der Offensive andererseits, abgesehen von
dem formell sogar eng begrenzten Rechtsinhalt, nach seiner politischen Bedeu¬
tung ein so allgemeines und unbestimmtes war -- das waren die natürlichen
Mängel jener mit Recht gefeierten Verhandlungen.

Auch die deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche hat unverge߬
liche Verdienste und große dramatische Momente gehabt. Aber alle Ziele, nach
denen die rednerischen Geschosse sich richteten -- damals kam das Wort Trag-


führen wolle, das entscheide die Einsicht, die bis jetzt die Geschicke dieses Landes
in ihre Bahn gebracht hat, Reichsregierung und Reichstag im Einvernehmen.
Nur möge man dafür sorgen, daß eine entschiedene und definitive Antwort
gegeben werde auf die fragende Bitte um eine Regierung im Lande. Auch da
gilt es, was von dem deutschen Volke auf dem wirthschaftlichen Gebiete gilt:
die Elsässer wollen „Gewißheit über ihre Zukunft, und alles andere ist besser
als das Hinziehen der Ungewißheit, in der Niemand weiß, wie die Zukunft
T^Z sich gestalten wird".




politische Briefe.
IX.
Der Reichstag vom 2. bis zum 9. Mai.

Es ist vielleicht der richtige Eindruck, wenn man die erste Lesung der
Zollreformvorlage, mit welcher der Reichstag in sechs langen Sitzungstagen
sich beschäftigt hat, als die größte Debatte in der parlamentarischen Geschichte
Deutschland's nach Ausdehnung, Gehalt und praktischer Bedeutung schätzt.
Unser erstes wirkliches Parlament war der Vereinigte Landtag von 1847, dessen
Verhandlungen mit Recht noch heute unvergessen sind. Es war die erste Ver¬
lautbarung unserer politischen Sehnsucht in den geregelten Formen parlamen¬
tarischer Diskussion, auf einem verfassungsmäßigen Boden, gerichtet auf ein
mäßiges, durch feierliche Versprechungen gewiesenes Ziel. Die Diskussion be¬
wegte sich mit einem Anstand und in einem patriotischen Ton ohne Gleichen.
So bleibt diese Verhandlung das Ehrendenkmal, welches der Parlamentaris¬
mus bei seinem Eingang in unser Staatsleben sich errichtet, in einiger Bezie¬
hung das Gegenstück zur ersten französischen Nationalversammlung. Aber eben,
daß dieser begeisterten, drei Viertheile der Versammlung beseelenden Offensive
nur eine verlorene, sich von Anfang, wenigstens geistig, verloren gebende Defen¬
sive gegenüberstand, daß das Ziel der Offensive andererseits, abgesehen von
dem formell sogar eng begrenzten Rechtsinhalt, nach seiner politischen Bedeu¬
tung ein so allgemeines und unbestimmtes war — das waren die natürlichen
Mängel jener mit Recht gefeierten Verhandlungen.

Auch die deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche hat unverge߬
liche Verdienste und große dramatische Momente gehabt. Aber alle Ziele, nach
denen die rednerischen Geschosse sich richteten — damals kam das Wort Trag-


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[0285] führen wolle, das entscheide die Einsicht, die bis jetzt die Geschicke dieses Landes in ihre Bahn gebracht hat, Reichsregierung und Reichstag im Einvernehmen. Nur möge man dafür sorgen, daß eine entschiedene und definitive Antwort gegeben werde auf die fragende Bitte um eine Regierung im Lande. Auch da gilt es, was von dem deutschen Volke auf dem wirthschaftlichen Gebiete gilt: die Elsässer wollen „Gewißheit über ihre Zukunft, und alles andere ist besser als das Hinziehen der Ungewißheit, in der Niemand weiß, wie die Zukunft T^Z sich gestalten wird". politische Briefe. IX. Der Reichstag vom 2. bis zum 9. Mai. Es ist vielleicht der richtige Eindruck, wenn man die erste Lesung der Zollreformvorlage, mit welcher der Reichstag in sechs langen Sitzungstagen sich beschäftigt hat, als die größte Debatte in der parlamentarischen Geschichte Deutschland's nach Ausdehnung, Gehalt und praktischer Bedeutung schätzt. Unser erstes wirkliches Parlament war der Vereinigte Landtag von 1847, dessen Verhandlungen mit Recht noch heute unvergessen sind. Es war die erste Ver¬ lautbarung unserer politischen Sehnsucht in den geregelten Formen parlamen¬ tarischer Diskussion, auf einem verfassungsmäßigen Boden, gerichtet auf ein mäßiges, durch feierliche Versprechungen gewiesenes Ziel. Die Diskussion be¬ wegte sich mit einem Anstand und in einem patriotischen Ton ohne Gleichen. So bleibt diese Verhandlung das Ehrendenkmal, welches der Parlamentaris¬ mus bei seinem Eingang in unser Staatsleben sich errichtet, in einiger Bezie¬ hung das Gegenstück zur ersten französischen Nationalversammlung. Aber eben, daß dieser begeisterten, drei Viertheile der Versammlung beseelenden Offensive nur eine verlorene, sich von Anfang, wenigstens geistig, verloren gebende Defen¬ sive gegenüberstand, daß das Ziel der Offensive andererseits, abgesehen von dem formell sogar eng begrenzten Rechtsinhalt, nach seiner politischen Bedeu¬ tung ein so allgemeines und unbestimmtes war — das waren die natürlichen Mängel jener mit Recht gefeierten Verhandlungen. Auch die deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche hat unverge߬ liche Verdienste und große dramatische Momente gehabt. Aber alle Ziele, nach denen die rednerischen Geschosse sich richteten — damals kam das Wort Trag-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/285>, abgerufen am 29.12.2024.