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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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die Einbildung vermag, so erheben sie bald wie Kenelm Digby ihr sympathe¬
tisches Pulver, bald sammeln sie wie Leonhard Turneißer*) die Kräuter unter
gewissen Himmelskonstellationen ein, bald erfinden sie wie Johann Floyer neue
Pulsuhren, womit sie desselbigen Bewegung untersuchen, oder kosten auf gut
marktschreierisch den Urin und beurtheilen aus dessen Farbe, Beschaffenheit und
Geschmack die Krankheit."

Selbstverständlich trifft diese Schilderung der Aeskulapspriester jener Zeit
nicht alle Mitglieder der Zunft. Aber wo ein solcher Arzt nicht andere täuschen
wollte, täuschte er vielfach sich selbst; denn die medizinischen Kenntnisse, die er
besaß, waren mit krassen Irrthümern gemischt, und überall ging neben dem
Wissen der Aberglaube her. Noch um das Jahr 1720 gab es, wie wir aus
der Doktordissertation "Vs suxorstitions rosÄiog." ersehen, trotz der inzwischen
erfolgten Entdeckungen eine große Anzahl von Heilkünstlern, welche den selt¬
samsten Meinungen vom Leben, von der inneren Einrichtung des Menschen,
vom Wesen der Krankheiten und den Mitteln zu deren Hebung huldigten, und
nicht selten fanden gerade diejenigen neuen Lehren den meisten Beifall und
die ausgebreitetste Anwendung, welche den wenigsten Anspruch darauf hatten.
Noch um das obengenannte Jahr glaubten deutsche Aerzte, daß das Leben im
Blute zu suchen, daß es, wie Paracelsus verkündet, ein "subtiler astralischer
Balsam", eine "eingeschlossene Luft" oder ein "eindringender Salzgeist" sei.
Selbst gelehrte Mediziner wollten die Meinung nicht von sich weisen, daß
Krankheiten angezaubert werden könnten und mit dämonischen Mächten zusam¬
menhingen. In der Praxis begannen fast alle Aerzte ihre Kur mit einer
"Vorbereitung" des Kranken durch Abführungsmittel und Blutentziehungen,
zu denen sein Zustand durchaus keinen Anlaß bot. Es gab ferner eine
Menge von Arzeneien, die Alles kuriren sollten, und zwar nach fester Ueber¬
zeugung dessen, der sie verordnete. Nicht wenige lebten der Ansicht, der Angel¬
punkt, um den sich jedes Heilverfahren zu drehen habe, sei das Herz, und
dieses müsse mit besonders kostbaren Medikamenten, Perlen, Edelsteinen, Silber
und vor Allem mit Gold verwahrt und gestärkt werden. Das ^uruin. xota-
Kils galt lange Zeit für ein Universalmittel. Nach einer Quittung von Fer-
rault de Bonnet, dem Hofalchymisten Ludwig's XI. von Frankreich, war dies
schon im fünfzehnten Jahrhundert und nach einem Dispensatorium der medi¬
zinischen Fakultät von Paris noch zu Ende des achtzehnten unter gelehrten
Aerzten der Fall. Zahlreich waren die Heilmittel, welche man dem Thierreich



Leben nehmen. Nur die Aerzte haben dieses Borrecht: sie können uns ohne Bedenken mit
ihren Mitteln umbringen, und ihre Fehlgriffe kommen nie an's Licht, weil die Erde sie so¬
fort bedeckt/'
*) Ein Paracelsist, der einige Zeit kurbrandenburgischer Hofmedikus war.

die Einbildung vermag, so erheben sie bald wie Kenelm Digby ihr sympathe¬
tisches Pulver, bald sammeln sie wie Leonhard Turneißer*) die Kräuter unter
gewissen Himmelskonstellationen ein, bald erfinden sie wie Johann Floyer neue
Pulsuhren, womit sie desselbigen Bewegung untersuchen, oder kosten auf gut
marktschreierisch den Urin und beurtheilen aus dessen Farbe, Beschaffenheit und
Geschmack die Krankheit."

Selbstverständlich trifft diese Schilderung der Aeskulapspriester jener Zeit
nicht alle Mitglieder der Zunft. Aber wo ein solcher Arzt nicht andere täuschen
wollte, täuschte er vielfach sich selbst; denn die medizinischen Kenntnisse, die er
besaß, waren mit krassen Irrthümern gemischt, und überall ging neben dem
Wissen der Aberglaube her. Noch um das Jahr 1720 gab es, wie wir aus
der Doktordissertation „Vs suxorstitions rosÄiog." ersehen, trotz der inzwischen
erfolgten Entdeckungen eine große Anzahl von Heilkünstlern, welche den selt¬
samsten Meinungen vom Leben, von der inneren Einrichtung des Menschen,
vom Wesen der Krankheiten und den Mitteln zu deren Hebung huldigten, und
nicht selten fanden gerade diejenigen neuen Lehren den meisten Beifall und
die ausgebreitetste Anwendung, welche den wenigsten Anspruch darauf hatten.
Noch um das obengenannte Jahr glaubten deutsche Aerzte, daß das Leben im
Blute zu suchen, daß es, wie Paracelsus verkündet, ein „subtiler astralischer
Balsam", eine „eingeschlossene Luft" oder ein „eindringender Salzgeist" sei.
Selbst gelehrte Mediziner wollten die Meinung nicht von sich weisen, daß
Krankheiten angezaubert werden könnten und mit dämonischen Mächten zusam¬
menhingen. In der Praxis begannen fast alle Aerzte ihre Kur mit einer
„Vorbereitung" des Kranken durch Abführungsmittel und Blutentziehungen,
zu denen sein Zustand durchaus keinen Anlaß bot. Es gab ferner eine
Menge von Arzeneien, die Alles kuriren sollten, und zwar nach fester Ueber¬
zeugung dessen, der sie verordnete. Nicht wenige lebten der Ansicht, der Angel¬
punkt, um den sich jedes Heilverfahren zu drehen habe, sei das Herz, und
dieses müsse mit besonders kostbaren Medikamenten, Perlen, Edelsteinen, Silber
und vor Allem mit Gold verwahrt und gestärkt werden. Das ^uruin. xota-
Kils galt lange Zeit für ein Universalmittel. Nach einer Quittung von Fer-
rault de Bonnet, dem Hofalchymisten Ludwig's XI. von Frankreich, war dies
schon im fünfzehnten Jahrhundert und nach einem Dispensatorium der medi¬
zinischen Fakultät von Paris noch zu Ende des achtzehnten unter gelehrten
Aerzten der Fall. Zahlreich waren die Heilmittel, welche man dem Thierreich



Leben nehmen. Nur die Aerzte haben dieses Borrecht: sie können uns ohne Bedenken mit
ihren Mitteln umbringen, und ihre Fehlgriffe kommen nie an's Licht, weil die Erde sie so¬
fort bedeckt/'
*) Ein Paracelsist, der einige Zeit kurbrandenburgischer Hofmedikus war.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/276>, abgerufen am 29.12.2024.