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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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stände, Ernährung, Erziehung, Wohnung, Umgang u. s. w. verstärken die
Wirkung der erblichen Anlage. Nun tritt aber eine wichtige Erscheinung zu
Tage. Wo die ersten Lebensumstände günstige waren, werden diese Erblich-
keitswirkuugen nicht nur abgeschwächt, sondern auch ausgehoben; es treten
fleißige und redliche Familien in der Abkommenschaft auf. Ueber die Macht
der Wirkung, welche die Prostitution auf die Entstehung von Verbrecherfami¬
lien ausübt, spricht sich der Verfasser folgendermaßen aus: "Wenn die Prosti¬
tution nur ein privates Laster wäre, beschränkt auf das Individuum, das ihm
fröhnt, so wäre es keiner besonderen allgemeinen Untersuchung werth. Aber
die Wirkung, die das Subjekt damit auf die Vermehrung und die Fortdauer
der Verbrechen ausübt, entsteht dadurch, daß es zu vernachlässigten und schlecht
erzogenen Kindern sührt, die, wenn sie erwachsen sind, jedes Sinnes für sitt¬
liche Pflicht und Selbstachtung entbehren; bald werden Diebe aus ihnen;
immer wieder in die Gefängnisse kommend, gerathen sie hier in die Schule
für schwerere Verbrechen, werden dort als Meister befördert und bilden zu¬
letzt die Führer und Lehrer einer neuen Generation, geboren, genährt und
erzogen unter denselben Bedingungen, wie sie selbst."

Als zweite wirkende Ursache des Pauperismus und des Verbrechens tritt
die Krankheitsanlage hervor. Die Aerzte, die in großen Gefängnissen zahl¬
reiche Obduktionen an verstorbenen Verbrechern gemacht, staunen über die
Schwere und Menge der Krankheiten, unter deren Wirkungen und Zerstörungen
die Verbrecher jahrelang leben konnten. Mit der Krankheit sind eine Reihe
sittlicher Folgen gegeben. Die nächsten Folgen sind gesunkene Lebenskraft,
Trägheit und Unfähigkeit zum Erwerb, Prostitution bei den Frauen, Trunk¬
sucht bei den Männern, dann nach Gelegenheit Hingabe an Betrug und kleinen
Diebstahl, oder Leben auf Kosten der Gemeinde. Diese Beobachtungen und
Erfahrungen hat der Verfasser namentlich aus den mündlichen Verhören der
Verbrecher in den Staatsgefängnissen geschöpft, die er für nothwendig hielt,
da die offiziellen Erhebungen der Gefängnißstatistik, von neun eigens dazu
vom Staate angestellten Beamten besorgt, vollkommen unbrauchbar, konfus
und lückenhaft waren. Namentlich haben die Aussagen der Gefangenen er¬
geben, wie verderblich und entscheidend für ihre Verbrecherkarriere der Auf¬
enthalt in jungen Jahren in Gefängnissen mit gemeinsamer Haft gewirkt hat;
solche Gefängnisse waren die hohe Schule des Verbrechens.

Aus den zahlreichen und vorurteilsfrei unternommenen Untersuchungen
geht hervor, daß die beiden großen fördernden Momente des Verbrechens die
Erblichkeit und die Umgebung, namentlich die in den Jugendjahren sind; ihre
Wechselwirkung und ihre meritorische Bedeutung für die Frage der Abhilfe


Grenzboten II. 1879. ^

stände, Ernährung, Erziehung, Wohnung, Umgang u. s. w. verstärken die
Wirkung der erblichen Anlage. Nun tritt aber eine wichtige Erscheinung zu
Tage. Wo die ersten Lebensumstände günstige waren, werden diese Erblich-
keitswirkuugen nicht nur abgeschwächt, sondern auch ausgehoben; es treten
fleißige und redliche Familien in der Abkommenschaft auf. Ueber die Macht
der Wirkung, welche die Prostitution auf die Entstehung von Verbrecherfami¬
lien ausübt, spricht sich der Verfasser folgendermaßen aus: „Wenn die Prosti¬
tution nur ein privates Laster wäre, beschränkt auf das Individuum, das ihm
fröhnt, so wäre es keiner besonderen allgemeinen Untersuchung werth. Aber
die Wirkung, die das Subjekt damit auf die Vermehrung und die Fortdauer
der Verbrechen ausübt, entsteht dadurch, daß es zu vernachlässigten und schlecht
erzogenen Kindern sührt, die, wenn sie erwachsen sind, jedes Sinnes für sitt¬
liche Pflicht und Selbstachtung entbehren; bald werden Diebe aus ihnen;
immer wieder in die Gefängnisse kommend, gerathen sie hier in die Schule
für schwerere Verbrechen, werden dort als Meister befördert und bilden zu¬
letzt die Führer und Lehrer einer neuen Generation, geboren, genährt und
erzogen unter denselben Bedingungen, wie sie selbst."

Als zweite wirkende Ursache des Pauperismus und des Verbrechens tritt
die Krankheitsanlage hervor. Die Aerzte, die in großen Gefängnissen zahl¬
reiche Obduktionen an verstorbenen Verbrechern gemacht, staunen über die
Schwere und Menge der Krankheiten, unter deren Wirkungen und Zerstörungen
die Verbrecher jahrelang leben konnten. Mit der Krankheit sind eine Reihe
sittlicher Folgen gegeben. Die nächsten Folgen sind gesunkene Lebenskraft,
Trägheit und Unfähigkeit zum Erwerb, Prostitution bei den Frauen, Trunk¬
sucht bei den Männern, dann nach Gelegenheit Hingabe an Betrug und kleinen
Diebstahl, oder Leben auf Kosten der Gemeinde. Diese Beobachtungen und
Erfahrungen hat der Verfasser namentlich aus den mündlichen Verhören der
Verbrecher in den Staatsgefängnissen geschöpft, die er für nothwendig hielt,
da die offiziellen Erhebungen der Gefängnißstatistik, von neun eigens dazu
vom Staate angestellten Beamten besorgt, vollkommen unbrauchbar, konfus
und lückenhaft waren. Namentlich haben die Aussagen der Gefangenen er¬
geben, wie verderblich und entscheidend für ihre Verbrecherkarriere der Auf¬
enthalt in jungen Jahren in Gefängnissen mit gemeinsamer Haft gewirkt hat;
solche Gefängnisse waren die hohe Schule des Verbrechens.

Aus den zahlreichen und vorurteilsfrei unternommenen Untersuchungen
geht hervor, daß die beiden großen fördernden Momente des Verbrechens die
Erblichkeit und die Umgebung, namentlich die in den Jugendjahren sind; ihre
Wechselwirkung und ihre meritorische Bedeutung für die Frage der Abhilfe


Grenzboten II. 1879. ^
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[0265] stände, Ernährung, Erziehung, Wohnung, Umgang u. s. w. verstärken die Wirkung der erblichen Anlage. Nun tritt aber eine wichtige Erscheinung zu Tage. Wo die ersten Lebensumstände günstige waren, werden diese Erblich- keitswirkuugen nicht nur abgeschwächt, sondern auch ausgehoben; es treten fleißige und redliche Familien in der Abkommenschaft auf. Ueber die Macht der Wirkung, welche die Prostitution auf die Entstehung von Verbrecherfami¬ lien ausübt, spricht sich der Verfasser folgendermaßen aus: „Wenn die Prosti¬ tution nur ein privates Laster wäre, beschränkt auf das Individuum, das ihm fröhnt, so wäre es keiner besonderen allgemeinen Untersuchung werth. Aber die Wirkung, die das Subjekt damit auf die Vermehrung und die Fortdauer der Verbrechen ausübt, entsteht dadurch, daß es zu vernachlässigten und schlecht erzogenen Kindern sührt, die, wenn sie erwachsen sind, jedes Sinnes für sitt¬ liche Pflicht und Selbstachtung entbehren; bald werden Diebe aus ihnen; immer wieder in die Gefängnisse kommend, gerathen sie hier in die Schule für schwerere Verbrechen, werden dort als Meister befördert und bilden zu¬ letzt die Führer und Lehrer einer neuen Generation, geboren, genährt und erzogen unter denselben Bedingungen, wie sie selbst." Als zweite wirkende Ursache des Pauperismus und des Verbrechens tritt die Krankheitsanlage hervor. Die Aerzte, die in großen Gefängnissen zahl¬ reiche Obduktionen an verstorbenen Verbrechern gemacht, staunen über die Schwere und Menge der Krankheiten, unter deren Wirkungen und Zerstörungen die Verbrecher jahrelang leben konnten. Mit der Krankheit sind eine Reihe sittlicher Folgen gegeben. Die nächsten Folgen sind gesunkene Lebenskraft, Trägheit und Unfähigkeit zum Erwerb, Prostitution bei den Frauen, Trunk¬ sucht bei den Männern, dann nach Gelegenheit Hingabe an Betrug und kleinen Diebstahl, oder Leben auf Kosten der Gemeinde. Diese Beobachtungen und Erfahrungen hat der Verfasser namentlich aus den mündlichen Verhören der Verbrecher in den Staatsgefängnissen geschöpft, die er für nothwendig hielt, da die offiziellen Erhebungen der Gefängnißstatistik, von neun eigens dazu vom Staate angestellten Beamten besorgt, vollkommen unbrauchbar, konfus und lückenhaft waren. Namentlich haben die Aussagen der Gefangenen er¬ geben, wie verderblich und entscheidend für ihre Verbrecherkarriere der Auf¬ enthalt in jungen Jahren in Gefängnissen mit gemeinsamer Haft gewirkt hat; solche Gefängnisse waren die hohe Schule des Verbrechens. Aus den zahlreichen und vorurteilsfrei unternommenen Untersuchungen geht hervor, daß die beiden großen fördernden Momente des Verbrechens die Erblichkeit und die Umgebung, namentlich die in den Jugendjahren sind; ihre Wechselwirkung und ihre meritorische Bedeutung für die Frage der Abhilfe Grenzboten II. 1879. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/265>, abgerufen am 27.09.2024.