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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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unbefangenen Leser verstimmen und jeden, der aus einer höheren Warte steht,
als der Dorfkirchthum den Herrn Koenig ist, auf's tiefste empören muß. Von
dem ersten Erforderniß eines Historikers, der klaren Ruhe des Urtheils, welches
die Erscheinungen einer jeden Zeit aus ihr selbst heraus erklärt ^und nicht
durch die Tendenzbrille ansieht, ist bei Koenig keine Spur zu finden. Man
wende nicht ein, daß Mangel an Raum oder Beschränkung durch den Verleger
den Autor verhindert habe, die kulturhistorische Perspektive zu erweitern und
zu vertiefen. Ich könnte dagegen eine unverantwortliche, zum Theil geradezu
lächerliche Raumverschwendung, theils an ganz unnütze, theils an Dinge nach¬
weisen, die Jedermann geläufig sind. Daß der Verfasser den Inhalt von
Thümmel's "Wilhelmine" erzählt, ist nicht blos überflüssig, sondern auch un¬
gehörig für ein Werk, welches die Prütensionen auf den Rang eines "Erb¬
buches" macht, das sich einen Platz "in dem Bücherschranke des deutschen
Hauses neben der Hausbibel und der Familienchronik" zu erwerben wünscht.
Koenig scheint das grenzenlos lascive Machwerk Thümmel's nur aus den Aus¬
zügen anderer "hervorragender Literarhistoriker" zu kennen. Sonst würde er
sicherlich die volle Schale seines Zorns über diese frivole, mit sichtlichem Be¬
hagen ausgemalte Schilderung sittlicher Verkommenheit ausgegossen haben.
Was soll man aber von einem Literarhistoriker sagen, der seinen Lesern einen
ausführlichen, ziemlich unbehilflichen Auszug aus Lessing's "Minna von Barn¬
helm" vorsetzt? Folgende Probe mag genügen: "Nach dem Friedensschluß
aber wird er (Tellheim) unter die ehrenrührige Anklage gestellt, daß er sich
habe von den sächsischen Ständen bestechen lassen, während er im Gegentheil
eine Kontribution, die sie nicht hatten erlegen können, aus seiner eigenen
Tasche vorgeschossen hatte." Man glaubt einen Satz aus der Stilübung des
Mitgliedes einer Tertia oder Sekunda zu lesen, in der die Lehrer solche
Themata -- Inhaltsangaben klassischer Dramen -- zu stellen pflegen. Kein
Wort über die meisterhafte, unerreicht knappe und wahre Charakteristik der
Personen! Kein Wort über das eherne Gefüge der dramatischen Handlung,
welche Zug für Zug den souveränen Beherrscher der Technik verräth! Kein
Wort über die Einwirkung dieses ersten deutschen Lustspiels auf die Literatur
unserer Zeit!

Daß König in Lessing's "Nathan" "keineswegs" ein Drama sieht, welches
"Duldsamkeit gegen Andersgläubige" lehrt, sondern "Gleichgiltigkeit (!) in Glau¬
benssachen", ist bei seinem einseitigen, orthodoxen Standpunkte nicht zu ver¬
wundern. Aber es ist doch traurig, daß unsere Literaturgeschichte von so
kleinen Geistern geschrieben wird, denen jedes Organ fehlt, um größere zu be¬
greifen oder auch nur unbefangen zu würdigen.

Ausdrücklich will ich bei diefer Gelegenheit erklären, daß ich kein Jude


Grenzboten II. 1379. 31

unbefangenen Leser verstimmen und jeden, der aus einer höheren Warte steht,
als der Dorfkirchthum den Herrn Koenig ist, auf's tiefste empören muß. Von
dem ersten Erforderniß eines Historikers, der klaren Ruhe des Urtheils, welches
die Erscheinungen einer jeden Zeit aus ihr selbst heraus erklärt ^und nicht
durch die Tendenzbrille ansieht, ist bei Koenig keine Spur zu finden. Man
wende nicht ein, daß Mangel an Raum oder Beschränkung durch den Verleger
den Autor verhindert habe, die kulturhistorische Perspektive zu erweitern und
zu vertiefen. Ich könnte dagegen eine unverantwortliche, zum Theil geradezu
lächerliche Raumverschwendung, theils an ganz unnütze, theils an Dinge nach¬
weisen, die Jedermann geläufig sind. Daß der Verfasser den Inhalt von
Thümmel's „Wilhelmine" erzählt, ist nicht blos überflüssig, sondern auch un¬
gehörig für ein Werk, welches die Prütensionen auf den Rang eines „Erb¬
buches" macht, das sich einen Platz „in dem Bücherschranke des deutschen
Hauses neben der Hausbibel und der Familienchronik" zu erwerben wünscht.
Koenig scheint das grenzenlos lascive Machwerk Thümmel's nur aus den Aus¬
zügen anderer „hervorragender Literarhistoriker" zu kennen. Sonst würde er
sicherlich die volle Schale seines Zorns über diese frivole, mit sichtlichem Be¬
hagen ausgemalte Schilderung sittlicher Verkommenheit ausgegossen haben.
Was soll man aber von einem Literarhistoriker sagen, der seinen Lesern einen
ausführlichen, ziemlich unbehilflichen Auszug aus Lessing's „Minna von Barn¬
helm" vorsetzt? Folgende Probe mag genügen: „Nach dem Friedensschluß
aber wird er (Tellheim) unter die ehrenrührige Anklage gestellt, daß er sich
habe von den sächsischen Ständen bestechen lassen, während er im Gegentheil
eine Kontribution, die sie nicht hatten erlegen können, aus seiner eigenen
Tasche vorgeschossen hatte." Man glaubt einen Satz aus der Stilübung des
Mitgliedes einer Tertia oder Sekunda zu lesen, in der die Lehrer solche
Themata — Inhaltsangaben klassischer Dramen — zu stellen pflegen. Kein
Wort über die meisterhafte, unerreicht knappe und wahre Charakteristik der
Personen! Kein Wort über das eherne Gefüge der dramatischen Handlung,
welche Zug für Zug den souveränen Beherrscher der Technik verräth! Kein
Wort über die Einwirkung dieses ersten deutschen Lustspiels auf die Literatur
unserer Zeit!

Daß König in Lessing's „Nathan" „keineswegs" ein Drama sieht, welches
„Duldsamkeit gegen Andersgläubige" lehrt, sondern „Gleichgiltigkeit (!) in Glau¬
benssachen", ist bei seinem einseitigen, orthodoxen Standpunkte nicht zu ver¬
wundern. Aber es ist doch traurig, daß unsere Literaturgeschichte von so
kleinen Geistern geschrieben wird, denen jedes Organ fehlt, um größere zu be¬
greifen oder auch nur unbefangen zu würdigen.

Ausdrücklich will ich bei diefer Gelegenheit erklären, daß ich kein Jude


Grenzboten II. 1379. 31
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/241>, abgerufen am 20.10.2024.