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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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welches vier Großoktavbände umfaßt, ist unbeschadet seiner sonstigen Verdienste
eine pedantische Kompilation, welche im Stande ist, in einem jugendfrischem,
eines begeisterten Aufschwunges fähigen Gemüthe jedes Gefühl für Poesie im
Keime zu ersticken. Dabei hat der letzte Band in der Aufnahme und Glori-
fizirung von Lebenden gegen Geister sechsten und siebenten Ranges eine Konni-
venz geübt, die für ein noch nicht gefestigtes aesthetisches Urtheil entschieden
höchst bedenklicher Natur ist. Karl Goedeke's Werk ist weniger eine Literatur-
geschichte, als eine Bibliographie, die für den Gelehrten von unschätzbarem
Werthe, für das größere Publikum aber absolut ungenießbar ist. Auch Kober-
stein wendet sich mehr an die Gelehrten, als an das Volk. So bleiben noch
A. F. C. Vilmar und Otto Roquette. Aber das Werk des Zeloten geizt nur
nach dem Beifall einer kleinen Gemeinde. Die Arbeit des liebenswürdigen,
feinsinnigen Dichters ist allerdings auf alle Kreise berechnet, welche die poeti¬
schen Erzeugnisse der deutschen Nationalliteratur mit Vorurtheilsfreien, unbe¬
fangenen Blicken betrachten; mit der Feinheit eines maß- und einsichtsvollen
Urtheils paart sich leichtflüssiger, durchsichtiger Stil, welchem der Leser mit
Vergnügen folgt. Aber Roquette schließt seine Literaturgeschichte mit Goethe's
Tode ab. Er vermied es, eine Epoche zu berühren, in welcher er selbst unter
den Ersten arbeitet und kämpft. Seine eben gerühmte Unbefangenheit ging
nicht so weit wie die eines poetischen Kollegen, der eine Literaturgeschichte der
Neuzeit geschrieben hat, in welcher der Geschichtschreiber dem Dichter ein für
letzteren ungemein ehrenvolles Denkmal gesetzt hat. In dieser Zurückhaltung
Roquette's liegt ein Mangel, den unser heutiges Geschlecht, welches sich im
Großen und Ganzen für Spielhagen, Paul Heyse und Emanuel Geibel mehr
interessirt als für die Nibelungen und Walther von der Vogelweide, nur un¬
gern empfindet.*)

Diesem Mangel ist freilich durch Spezialgeschichten der neuesten Epoche
abgeholfen worden. Unter diesen ist Julian Schmidt's Literaturgeschichte, an
der sich der überspannte Demagog, dessen Exzentrizitäten durch den bei Brockhaus
veröffentlichten Briefwechsel mit einer Russin und erst neuerdings wieder durch
die Herzensergüsse der famosen Komödiantin Helene v. Racovitza in das
gehörige Licht gerückt worden sind, mit Unrecht schwer vergangen hat, im
Grunde mehr für vornehmere geistige Kreise geschrieben, die eine kritische Ana¬
lyse vertragen können, ohne an einem großen Genius irre zu werden, als für
die große Masse des Publikums. Rudolf Gottschall's "Nationalliteratur in der



*) Bei einer etwaigen neuen Auflage legen wir es der Verlagshandlung von Roquette's
"Geschichte der deutschen Dichtung" dringend an's Herz, für eine recht gewissenhafte Kor¬
rektur Sorge zu tragen. Die zweite Auflage -- die erste kennen wir nicht -- wimmelt von
D. Red. sinnentstellenden Druckfehlern.

welches vier Großoktavbände umfaßt, ist unbeschadet seiner sonstigen Verdienste
eine pedantische Kompilation, welche im Stande ist, in einem jugendfrischem,
eines begeisterten Aufschwunges fähigen Gemüthe jedes Gefühl für Poesie im
Keime zu ersticken. Dabei hat der letzte Band in der Aufnahme und Glori-
fizirung von Lebenden gegen Geister sechsten und siebenten Ranges eine Konni-
venz geübt, die für ein noch nicht gefestigtes aesthetisches Urtheil entschieden
höchst bedenklicher Natur ist. Karl Goedeke's Werk ist weniger eine Literatur-
geschichte, als eine Bibliographie, die für den Gelehrten von unschätzbarem
Werthe, für das größere Publikum aber absolut ungenießbar ist. Auch Kober-
stein wendet sich mehr an die Gelehrten, als an das Volk. So bleiben noch
A. F. C. Vilmar und Otto Roquette. Aber das Werk des Zeloten geizt nur
nach dem Beifall einer kleinen Gemeinde. Die Arbeit des liebenswürdigen,
feinsinnigen Dichters ist allerdings auf alle Kreise berechnet, welche die poeti¬
schen Erzeugnisse der deutschen Nationalliteratur mit Vorurtheilsfreien, unbe¬
fangenen Blicken betrachten; mit der Feinheit eines maß- und einsichtsvollen
Urtheils paart sich leichtflüssiger, durchsichtiger Stil, welchem der Leser mit
Vergnügen folgt. Aber Roquette schließt seine Literaturgeschichte mit Goethe's
Tode ab. Er vermied es, eine Epoche zu berühren, in welcher er selbst unter
den Ersten arbeitet und kämpft. Seine eben gerühmte Unbefangenheit ging
nicht so weit wie die eines poetischen Kollegen, der eine Literaturgeschichte der
Neuzeit geschrieben hat, in welcher der Geschichtschreiber dem Dichter ein für
letzteren ungemein ehrenvolles Denkmal gesetzt hat. In dieser Zurückhaltung
Roquette's liegt ein Mangel, den unser heutiges Geschlecht, welches sich im
Großen und Ganzen für Spielhagen, Paul Heyse und Emanuel Geibel mehr
interessirt als für die Nibelungen und Walther von der Vogelweide, nur un¬
gern empfindet.*)

Diesem Mangel ist freilich durch Spezialgeschichten der neuesten Epoche
abgeholfen worden. Unter diesen ist Julian Schmidt's Literaturgeschichte, an
der sich der überspannte Demagog, dessen Exzentrizitäten durch den bei Brockhaus
veröffentlichten Briefwechsel mit einer Russin und erst neuerdings wieder durch
die Herzensergüsse der famosen Komödiantin Helene v. Racovitza in das
gehörige Licht gerückt worden sind, mit Unrecht schwer vergangen hat, im
Grunde mehr für vornehmere geistige Kreise geschrieben, die eine kritische Ana¬
lyse vertragen können, ohne an einem großen Genius irre zu werden, als für
die große Masse des Publikums. Rudolf Gottschall's „Nationalliteratur in der



*) Bei einer etwaigen neuen Auflage legen wir es der Verlagshandlung von Roquette's
„Geschichte der deutschen Dichtung" dringend an's Herz, für eine recht gewissenhafte Kor¬
rektur Sorge zu tragen. Die zweite Auflage — die erste kennen wir nicht — wimmelt von
D. Red. sinnentstellenden Druckfehlern.
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[0238] welches vier Großoktavbände umfaßt, ist unbeschadet seiner sonstigen Verdienste eine pedantische Kompilation, welche im Stande ist, in einem jugendfrischem, eines begeisterten Aufschwunges fähigen Gemüthe jedes Gefühl für Poesie im Keime zu ersticken. Dabei hat der letzte Band in der Aufnahme und Glori- fizirung von Lebenden gegen Geister sechsten und siebenten Ranges eine Konni- venz geübt, die für ein noch nicht gefestigtes aesthetisches Urtheil entschieden höchst bedenklicher Natur ist. Karl Goedeke's Werk ist weniger eine Literatur- geschichte, als eine Bibliographie, die für den Gelehrten von unschätzbarem Werthe, für das größere Publikum aber absolut ungenießbar ist. Auch Kober- stein wendet sich mehr an die Gelehrten, als an das Volk. So bleiben noch A. F. C. Vilmar und Otto Roquette. Aber das Werk des Zeloten geizt nur nach dem Beifall einer kleinen Gemeinde. Die Arbeit des liebenswürdigen, feinsinnigen Dichters ist allerdings auf alle Kreise berechnet, welche die poeti¬ schen Erzeugnisse der deutschen Nationalliteratur mit Vorurtheilsfreien, unbe¬ fangenen Blicken betrachten; mit der Feinheit eines maß- und einsichtsvollen Urtheils paart sich leichtflüssiger, durchsichtiger Stil, welchem der Leser mit Vergnügen folgt. Aber Roquette schließt seine Literaturgeschichte mit Goethe's Tode ab. Er vermied es, eine Epoche zu berühren, in welcher er selbst unter den Ersten arbeitet und kämpft. Seine eben gerühmte Unbefangenheit ging nicht so weit wie die eines poetischen Kollegen, der eine Literaturgeschichte der Neuzeit geschrieben hat, in welcher der Geschichtschreiber dem Dichter ein für letzteren ungemein ehrenvolles Denkmal gesetzt hat. In dieser Zurückhaltung Roquette's liegt ein Mangel, den unser heutiges Geschlecht, welches sich im Großen und Ganzen für Spielhagen, Paul Heyse und Emanuel Geibel mehr interessirt als für die Nibelungen und Walther von der Vogelweide, nur un¬ gern empfindet.*) Diesem Mangel ist freilich durch Spezialgeschichten der neuesten Epoche abgeholfen worden. Unter diesen ist Julian Schmidt's Literaturgeschichte, an der sich der überspannte Demagog, dessen Exzentrizitäten durch den bei Brockhaus veröffentlichten Briefwechsel mit einer Russin und erst neuerdings wieder durch die Herzensergüsse der famosen Komödiantin Helene v. Racovitza in das gehörige Licht gerückt worden sind, mit Unrecht schwer vergangen hat, im Grunde mehr für vornehmere geistige Kreise geschrieben, die eine kritische Ana¬ lyse vertragen können, ohne an einem großen Genius irre zu werden, als für die große Masse des Publikums. Rudolf Gottschall's „Nationalliteratur in der *) Bei einer etwaigen neuen Auflage legen wir es der Verlagshandlung von Roquette's „Geschichte der deutschen Dichtung" dringend an's Herz, für eine recht gewissenhafte Kor¬ rektur Sorge zu tragen. Die zweite Auflage — die erste kennen wir nicht — wimmelt von D. Red. sinnentstellenden Druckfehlern.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/238>, abgerufen am 28.12.2024.