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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Hier liegt der springende Punkt des ganzen Problems, und dieses wird
die Statistik auf dem bisherigen Wege nicht lösen. Wie ist über "die eingewur¬
zelten Gewohnheiten" hinwegzukommen? Wie soll man den größten Theil
der Menschen, selbst in zivilisirten Ländern, dazu bringen, daß sie wollen
können, das heißt sittlich wollen? ' Das ist die Frage. Und diese Frage kann
wohl sür den Einzelnen, der noch auf den Appell an die sittliche Freiheit
hört, aber nicht für ganze verkommene Generationen, für schon so gewordene,
wie im Werden begriffene, durch moralphilosophische Deduktion gelöst werden.
Man sagt, "Thatsachen seien brutal"; das ist aber nur das subjektive Urtheil
dessen, der nicht mit der Arbeit des Denkens die Thatsachen zu begreifen be¬
müht ist. Es stehen hier zwei unerklärte Thatsachen einander gegenüber: das
kontinuirliche Zahlengesetz der Verbrechen, wie es die Statistik ergeben hat,
und die Freiheit des menschlichen Willens. Wir glauben, die Wurzeln der ersten
Thatsache und damit die Möglichkeit, sie virivus Hallis gesellschaftlich zu bewältigen,
liegt im Bereiche unseres untersuchenden und forschenden Könnens. Die Frei¬
heit des menschlichen Willens an sich bleibt aber unerklärt, vielleicht unerklärlich.
Die Jahrhunderte lang dauerndes Arbeit der Philosophie, die psychologische
Forschung der neueren Zeit, auf den exakten Untersuchungen der Nervenphysio¬
logie begründet, alle diese ernsten Bestrebungen von Denkern ersten Ranges
sind, wie vor einem verschleierten Bilde, vor dem Mysterium der Einheit des
menschlichen Bewußtseins stehen geblieben, in welcher die Freiheit des mensch¬
lichen Willens begründet liegt -- sei es, daß der Grund noch in einer letzten
Entdeckung liege, die den Schleier zerreißt, sei es, daß es, wie ein deutscher
Philosoph gesagt, unmöglich ist, "daß das Vorgestellte zugleich Vorstellendes
sei". Aber die Thatsache des freien menschlichen Willens soll man nicht des¬
halb leugnen, weil man sie nicht erklären kann. Eben weil es bisher nicht
gelungen ist, das innere Bestimmtsein in seinem räthselhaften Werden, durch
äußeres Bestimmtsein zu erklären, trägt die Erscheinung des menschlichen Willens
in seinen schönsten sittlichen und heroischen, wie in seinen wildesten dämonischen
Momenten die Signatur der Freiheit an sich. Ja es scheint die Erkenntniß,
die aus der Erfahrung fließt, welche Lessing mit den Worten Emilia's in der
"Emilia Galotti" ausgedrückt hat: "Ich will doch sehen, wer der Mensch ist, der
einen Menschen zwingen kann", die Erkenntniß, daß die Heilung unserer sozialen
Uebel im letzten Grunde doch nur von einer Erziehung des sittlichen Willens
abhängt, eine so allgemeine zu sein, daß sie z. B. bei Gelegenheit des Erlasses
des Sozialistengesetzes eben so bestimmt in den Motiven der Regierung, wie
in denen der gegnerischen Presse ausgesprochen worden ist. Damit ist aber
nicht gesagt, daß hier die Freiheit des menschlichen Willens allein helfen könne.
Die bestimmenden äußeren Ursachen, Geburt, Erziehung, Lebenslauf und die


Hier liegt der springende Punkt des ganzen Problems, und dieses wird
die Statistik auf dem bisherigen Wege nicht lösen. Wie ist über „die eingewur¬
zelten Gewohnheiten" hinwegzukommen? Wie soll man den größten Theil
der Menschen, selbst in zivilisirten Ländern, dazu bringen, daß sie wollen
können, das heißt sittlich wollen? ' Das ist die Frage. Und diese Frage kann
wohl sür den Einzelnen, der noch auf den Appell an die sittliche Freiheit
hört, aber nicht für ganze verkommene Generationen, für schon so gewordene,
wie im Werden begriffene, durch moralphilosophische Deduktion gelöst werden.
Man sagt, „Thatsachen seien brutal"; das ist aber nur das subjektive Urtheil
dessen, der nicht mit der Arbeit des Denkens die Thatsachen zu begreifen be¬
müht ist. Es stehen hier zwei unerklärte Thatsachen einander gegenüber: das
kontinuirliche Zahlengesetz der Verbrechen, wie es die Statistik ergeben hat,
und die Freiheit des menschlichen Willens. Wir glauben, die Wurzeln der ersten
Thatsache und damit die Möglichkeit, sie virivus Hallis gesellschaftlich zu bewältigen,
liegt im Bereiche unseres untersuchenden und forschenden Könnens. Die Frei¬
heit des menschlichen Willens an sich bleibt aber unerklärt, vielleicht unerklärlich.
Die Jahrhunderte lang dauerndes Arbeit der Philosophie, die psychologische
Forschung der neueren Zeit, auf den exakten Untersuchungen der Nervenphysio¬
logie begründet, alle diese ernsten Bestrebungen von Denkern ersten Ranges
sind, wie vor einem verschleierten Bilde, vor dem Mysterium der Einheit des
menschlichen Bewußtseins stehen geblieben, in welcher die Freiheit des mensch¬
lichen Willens begründet liegt — sei es, daß der Grund noch in einer letzten
Entdeckung liege, die den Schleier zerreißt, sei es, daß es, wie ein deutscher
Philosoph gesagt, unmöglich ist, „daß das Vorgestellte zugleich Vorstellendes
sei". Aber die Thatsache des freien menschlichen Willens soll man nicht des¬
halb leugnen, weil man sie nicht erklären kann. Eben weil es bisher nicht
gelungen ist, das innere Bestimmtsein in seinem räthselhaften Werden, durch
äußeres Bestimmtsein zu erklären, trägt die Erscheinung des menschlichen Willens
in seinen schönsten sittlichen und heroischen, wie in seinen wildesten dämonischen
Momenten die Signatur der Freiheit an sich. Ja es scheint die Erkenntniß,
die aus der Erfahrung fließt, welche Lessing mit den Worten Emilia's in der
„Emilia Galotti" ausgedrückt hat: „Ich will doch sehen, wer der Mensch ist, der
einen Menschen zwingen kann", die Erkenntniß, daß die Heilung unserer sozialen
Uebel im letzten Grunde doch nur von einer Erziehung des sittlichen Willens
abhängt, eine so allgemeine zu sein, daß sie z. B. bei Gelegenheit des Erlasses
des Sozialistengesetzes eben so bestimmt in den Motiven der Regierung, wie
in denen der gegnerischen Presse ausgesprochen worden ist. Damit ist aber
nicht gesagt, daß hier die Freiheit des menschlichen Willens allein helfen könne.
Die bestimmenden äußeren Ursachen, Geburt, Erziehung, Lebenslauf und die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/235>, abgerufen am 29.12.2024.